"Putin" und Putin



1.

Spätestens seit Februar dieses Jahres sind die Nutzer unserer Hauptmedien, von den öffentlich-rechtlichen und Privat-Sendern über die "etablierten" Zeitungen hin zu den "etablierten" Web-Portalen, einer ziemlich unablässigen Berieselung mit Nachrichten, Reportagen und Essays über eine ganz bestimmte Person ausgesetzt. Glaubt man diesen Berichten, müsste es sich jedoch um eine Person mit ganz unwahrscheinlichen, nachgerade phantastischen Eigenschaften handeln. Deswegen würde ich vorläufig diese "Person" eher als Kunstfigur bezeichnen wollen. Und da man in so einem Falle auch nicht voreilig eine Geschlechtszuordnung vornehmen sollte, schlage ich

"das Putin"

als vorläufige Bezeichnung dieses Phänomens vor. Denn "das Putin" *1 offenbart, glaubt man den Mainstream-Medien, ganz Erstaunliches. Nicht nur, das er oder es "allein" den aktuellen Krieg in der Ukraine (oder besser dessen aktuelle Eskalationsstufe) zu verantworten hat, "das Putin" ist ebenso allein für die Flüchtlingsströme aus diesem Gebiet verantwortlich. Seine Soldaten lasse er entsetzliche Kriegsverbrechen begehen und treibt sie, vermutlich höchstpersönlich, zu Massen-Vergewaltigungen an. Diese "russischen Horden" haben jählings ein gänzlich unschuldiges Land überfallen und "stehlen" dabei auch noch die Weizenernte, oder aber blockieren die ukrainischen Häfen für Frachtschiffe - alles angeordnet von "das Putin". Die sich (dadurch?) abzeichnende Welthungerkrise hat "das Putin" selbstredend auch zu verantworten. Die gute alte Spezies der "Kreml-Astrologen" erlebt eine unverhoffte Wiedergeburt und beschreibt "das Putin" wahlweise als vollkommen irrsinnig oder grössenwahnsinnig oder beides. Trotzdem kannten diese Koriphäen selbstredend detailgenau den ursprünglichen Plan von "das Putin" und wissen auch genau, warum dieser scheiterte und welchen Plan er als nächstes umzusetzen versuchen wird. Kurzum: eine tolle Figur, "das Putin" !



2.

Bebildert werden diese Berichte allerdings mit einer recht real wirkenden Person. Glaubhafte Quellen weisen darauf hin, dass es da im fernen Moskau tatsächlich eine Person namens Putin gibt. Dieser Putin, den wir zur Unterscheidung vielleicht R-Putin nennen wollen (R für "real" oder "russisch"), übt sein Amt (Präsident der russischen Föderation) langjährig aus und hat nach den Unterlagen der dortigen Regierung auch die "militärische Spezialoperation in der Ukraine" ab dem 24. Februar befohlen. Denn wie sein amerikanisches Pendant ist R-Putin gemäss Verfassung gleichzeitig Oberbefehlshaber der Landesarmee.

Über diese Militäraktion vulgo Krieg soll es in diesem Text aber nur am Rande gehen, eher darum, was "das Putin" und R-Putin überhaupt gemeinsam haben.



3.

Den Nutzern der Mainstream-Medien ist "das Putin" allerdings schon altbekannt. Danach hat "das Putin" 2014 die Krim"völkerrechtswidrig annektiert", dann 2018 den Giftgasanschlag auf den ehemaligen Doppelspion Skripal befohlen, ebenso 2020 die Attacke auf den angeblichen "Führer der innerrussischen Opposition" Nawalny. Die übergrosse Affinität von "das Putin" zu Giftgas hat sich demzufolge auch in der Unterstützung des syrischen "Machthabers" Bashar al-Assad *2 gezeigt, als dieser "sein eigenes Volk mit Giftgas bombardierte". Den als Hobby-Psychologen dilettierenden Kreml-Deutern ist auch klar, dass dieser Hang von "das Putin" zu sinistren Taten aus seiner "frühkindlichen" bzw. jugendlichen Prägung in den Diensten des KGB herrührt. Soviel Material über "das Putin" gibt es mittlerweile, dass manche TV-Anstalten ganze Sendeabende damit füllen können:




Woran man die Mediennutzer damals schon gewöhnt hat, ist das Bild eines "Putin", der sich sozusagen mit höchstem Aufwand selber ins Knie schiesst. Oder wie soll man es verstehen, dass gemäss westlicher Darstellung der Kremlherrscher sowohl bei den Skripals als auch bei Nawalny eine Methode wählte, die a) einen fingerdicken Hinweis auf den Urheber geliefert hätte, b) die ausführenden Agenten höchster Gefahr der Selbstvergiftung aussetzte und c) extrem komplizierte Vor- und Nachbereitungen erfordert hätte? Und die am Ende - beide Male! - auch noch erfolglos war. War niemand in seinem Umfeld fähig gewesen, eine der mannigfachen erprobten Methoden zur Beseitigung von Staatsfeinden in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema ausfindig zu machen? Und als Nebenfrage: Hatten die angeblichen Opfer überhaupt den Status von "Staatsfeinden", der solchen Aufwand gerechtfertigt hätte?



4.

Seit Ende Februar ist auch den von westlichen Medien beschallten Bürgern aufgefallen, dass in der Ukraine Krieg geführt wird. Nach allen Regeln der Kriegspropaganda wird der selbsterklärte Feind dämonisiert, und da hilft die schon etablierte Kunstfigur "das Putin" ungemein: Die schon seit Jahren zugeschriebenen Attribute werden seitdem noch mehr betont. Dieser "irre Iwan" hat also nicht nur einen "unprovozierten Angriffskrieg" angefangen, sondern lässt z.B. seine aus der Ortschaft Butscha abziehenden Truppen extra vorher noch ein Massaker veranstalten, wobei die Leichen nicht etwa versteckt oder verscharrt werden, sondern - zur Erleichterung der Arbeit des ukrainischen Videotrupps - rechts und links der Hauptstrasse drapiert werden. Und obwohl Russland seit Beginn der Operation die Luftherrschaft hat, wird zur angeblichen (und offenkundig anlasslosen) Bombardierung der Zivilbevölkerung in Kramatorsk nicht etwa eine Staffel Jagdbomber ausgeschickt, sondern man kramt eine längst ausrangierte Rakete vom Typ Totschka-U dafür hervor *3. Scheinbar will "das Putin" gar keinen Krieg führen und gewinnen, sondern nur möglichst allüberall seine ausgesuchte Grausamkeit demonstrieren. Zumindest wenn man dem hochprofessionell arbeitenden "Ukraine Media Center" und den Kiewer Offiziellen glauben will.

Wobei die Damen und Herren in Kiew längst weiter sind: In bester Bandera-Tradition werden gleich alle Russen zu Untermenschen erklärt, die es zu beseitigen gilt *4. Ob das wohl auch für die Russen im Donbass gilt, die man doch angeblich heim in den Schoss von Mutter Ukraine führen will? So würde dann auch der seit 2014 fortdauernde Artilleriebeschuss auf Städte und Dörfer in den Donbass-Republiken Sinn machen...



5.

Natürlich ist "das Putin" kein getreues Abbild des realen Putin oder des realen Russlands, sondern ein Zerrbild. Und wie ein Zerrspiegel Aspekte des realen Gegenstands aufnimmt und ins Fratzenhafte steigert, so mag man schon die eine oder andere "echte" Eigenschaft im westmedialen Zerrbild Russlands und Putins wiedererkennen. Die überdeutlich erkennbare Instrumentalisierung dieses Zerrbildes sollte aber jedem vernunftbegabten Mitbürger zu denken geben. Wem nutzt dies?



6.

Der Herrscher im Kreml wird vom selbsterklärten "Wertewesten" schon seit 2014 sanktioniert, und der deutsche Bundeskanzler spricht mit Stolz davon, dass man die Sanktionen seit Februar nochmals unerhört verschärft hat: "Sanktionen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!".

Allerdings wird, obwohl es sich doch bei dem Krieg seit Februar angeblich um den einsamen Entschluss eines Irren oder Grössenwahnsinnigen handeln soll, nicht nur "Putin", sondern auch das gesamte russische Volk sanktioniert (und mittlerweile ist auch die Tagesschau so ehrlich, dies eben auch Bestrafung zu nennen). Damit sind sie als Kollektivstrafe einzuordnen, und Pädagogen wissen schon seit Jahrzehnten, dass solche ihr Ziel meist verfehlen und bei den Bestraften nur Ressentiments gegenüber den Strafenden schüren.

Auch im historischen Kontext haben Kollektivstrafen meist ihr Zeil verfehlt, wie man u.U. an Kuba, dem am längsten sanktionierten Land der Welt, sehen könnte. Und der nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs verfügte Versailler Vertrag mit seiner Kollektivstrafe gegen die Deutschen dürfte wie kaum ein anderer Faktor zur Entstehung des deutschen Revanchismus und schliesslich des nationalsozialitischen Verbrecherstaates beigetragen haben. Unsere eigene Geschichte wäre also Hinweis genug, dass Verhandlungen statt Konfrontation, Kooperation statt Bestrafung der richtige Weg wären.

Von Friedrich Nietzsche stammt die Warnung: "Misstraue jenen, in denen der Trieb zu strafen mächtig ist!"

Jener Trieb zu strafen hat aber offenbar, wie ein besonders aggressives Virus, die Regierungen der meisten westlichen Staaten infiziert. Diesen Leuten kann es garnicht genug an Strafen sein. Besondere Hochburgen bilden dabei Brüssel, die baltischen Staaten und die deutsche Regierung, namentlich die Minister der Grünen Partei. Ein Regieren ohne Sanktionen (nach aussen und innen!) scheint diesen Leuten garnicht mehr vorstellbar zu sein.

Und obwohl man offenbar mittlerweile erkennt, dass diese Sanktionen exorbitant schädlich für die eigene Volkswirtschaft sind, werden beständig neue nachfabriziert. In Brüssel ist man mittlerweile bei "Paket 7". Ist das nur Ausfluss eines neuzeitlichen Hangs zu Masochismus, oder sind da entscheidende Schlüsselstellen mit treuen Vasallen der Washingtoner Regierung besetzt?

Wenigstens wüsste man dann, dass hinter den Entscheidungen nicht nur verbohrter Dogmatismus, sonder reale hegemonialpolitische Erwägungen stehen - freilich zum Vorteil der USA und nicht Europas.



7.

In Abwandlung eines bekannten Spruchs könnte man formulieren "Traue keiner Umfrage, die du nicht selbst gefälscht hast". Betrachtet man - mit aller angebrachten Vorsicht - Ergebnisse von Umfragen (siehe etwa hier), so scheint sich beim Thema Ukraine-Konflikt - drei Jahrzehnte nach der "Wiedervereinigung" - immer noch ein tiefer Graben zwischen Ost und West aufzutun. So gaben in der vom "RND" zitierten Umfrage nur 17% der Westdeutschen an, dass die USA mit- oder hauptverantwortlich für den Ausbruch der Krise seien, während unter den Ostdeutschen 43% dieser Meinung waren. Bei der Einschätzung, ob Russland nach wie vor als verlässlicher Energielieferant zu betrachten sei, antworteten 47% der Westdeutschen, aber 75% der Ostdeutschen mit "Ja".

Als Westdeutscher kann man nur darüber spekulieren, ob hier mindestens bei den "gelernten DDR-Bürgern" (also denen, die die DDR noch bewusst erlebt haben) zwei konkrete Erfahrungen hineinspielen: Zum einen eine tief verwurzelte Abneigung gegen konzentrierte staatliche Propaganda und staatlich verordnete "Zwangs-Solidarität". Zum anderen die konkrete Erfahrung mit echten, lebendigen Russen am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung, die die simple, aber wichtige Erkenntnis lieferte, dass es sich allen sonstigen Unterschieden zum Trotz auch um Menschen "wie Du und ich" handelt.

Für die nicht so propaganda-erfahrenen Westdeutschen wäre vielleicht eine kleine Handreichung angebracht: Woran erkennt man Propaganda als solche? Spätestens dann ist etwas als Propaganda einzuordnen, wenn sie neben sich keine andere Meinung mehr zulässt. Mit der EU-weiten Sperrung des russischen Senders RT und den weitverzweigten Zensurmassnahmen der US-dominierten Social-Media-Konzerne (Youtube, Twitter) oder auch dem Niederschreien von "Abweichlern" in Talkshow-Formaten *5 ist dieses Kriterium hinlänglich erfüllt.



(Juli 2022)





*1 Die Anregung zu "das Putin" verdanke ich Paul Steinhardt, der in seinen zumeist sehr treffenden Kommentaren auf MAKROSKOP schon länger die Schreibweise "Putin" (also mit Anführungszeichen) verwendet, wenn er das von Westmedien imaginierte oder projizierte Feindbild von Putin bzw. Russland meint.

*2 Bashar al-Assad in Syrien, von der Tagesschau jahrelang nur als "Machthaber" oder "Führer des Regimes in Damaskus" betitelt, hat aber gewisse Chancen auf Restitution seines Titels "Präsident", denn in einem jüngeren Tagesschau-Beitrag war tatsächlich nicht mehr von "Regime", sondern von "Regierung in Damaskus" die Rede.

*3 Die Kurzstreckenrakete vom Typ Totschka, mitsamt ihren Varianten wie z.B. "U", war zu Sowjetzeiten entwickelt und in grosser Zahl an die Truppenteile in allen Sowjetrepubliken ausgeliefert worden. Während Russland nach eigener Aussage alle Totschkas schon längst ausgemustert hat, sind diese Raketen bei den ukrainischen Streitkräften weiterhin im Einsatz. Näheres zur Dienstbarmachung von Propaganda als Waffe im Krieg auch in meinem Text vom April: Propaganda in Ruretanien

*4 Die für den westlichen Gebrauch etwas abgeschwächte Formel des mittlerweile ehemaligen ukrainischen Botschafters (und Bandera-Bewunderers) Melnyk war: "Russland ist ein Feindstaat für uns. Und alle Russen sind Feinde für die Ukraine im Moment.“ Dazu passend eine Reuters-Meldung vom März: > March 10 (Reuters) - Meta Platforms (FB.O) will allow Facebook and Instagram users in some countries to call for violence against Russians and Russian soldiers in the context of the Ukraine invasion, according to internal emails seen by Reuters on Thursday, in a temporary change to its hate speech policy. The social media company is also temporarily allowing some posts that call for death to Russian President Vladimir Putin or Belarusian President Alexander Lukashenko in countries including Russia, Ukraine and Poland, according to a series of internal emails to its content moderators. These calls for the leaders' deaths will be allowed unless they contain other targets or have two indicators of credibility, such as the location or method, one email said, in a recent change to the company's rules on violence and incitement.<

*5 Die Talkshow-Ausgabe "Markus Lanz" von 2. Juni hat ja diesbezüglich eine gewisse Berühmtheit erlangt. Wer sich das antun mag, kann die Sendung zur Zeit in der ZDF-Mediathek abrufen: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/


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