Propaganda in Ruretanien -

eine fiktive Begrüssungsrede



Liebe Soldatinnen und Soldaten,

Sie haben sich hier an der Akademie der Streitkräfte Ruretaniens zum Einführungslehrgang für junge Propagandaoffiziere eingeschrieben - seien Sie herzlich willkommen!

Vielleicht sind sie von einigen Ihrer waffentragenden Kameraden deshalb etwas verbal angegangen worden. Vielleicht hat man gesagt: "Während wir uns hier in feuchten Unterständen mit blockierenden Maschinengewehren und verschlissenen Granatwerfern herumplagen müssen, willst du dir einen faulen Lenz machen und warm und sicher in einem klimatiserten Container oder gar einem angenehmen Büro hocken und 'irgendwas mit Medien' tun."

Solche Ressentiments teile ich nicht. Im Gegenteil - in Abwandlung eines Mottos der Aufklärung ("die Schreibfeder ist mächtiger als das Schwert!") würde ich sagen: "Die Medienkeule ist mächtiger als die Streitaxt!". Denn intelligent ausgeübte Propaganda kann nicht nur helfen, die Versorgung mit Waffen und Munition auch im Konfliktfall sicherzustellen, sie kann - und wird zunehmend - kriegsentscheidend sein. Wer weiss - möglicherweise werden sich die Propagandabteilungen in naher Zukunft ebenso von den "alten" Teilstreitkräften lösen, wie sich nach dem zweiten Weltkrieg die "US Army Air Force" von der Army löste und in die eigenständige und mächtige "US Air Force" wandelte. Dann gibt es vielleicht irgendwann einen "General der Bildwerferbatallione", und es würde mich nicht wundern, wenn einer oder eine von ihnen diesen Posten erreicht.

Aber genug davon. Vielmehr will ich ihnen an 3 Beispielen aufzeigen, wie intelligente Propaganda zur möglicherweise kriegsentscheidenden Waffe werden kann.



Die Technik versagt, der Propagandaoffizier nicht

Wer sich schon einmal etwas mit militärischer Raketentechnik befasst hat, weiss um die Wichtigkeit der Umstellung von flüssigen auf feste Raketentreibstoffe, die schon in den 1960er Jahren stattgefunden hat. Wo die Inbetriebnahme einer Rakete mit flüssigen Treibstoffen ein logistischer Abtraum war, der eine vielköpfige Bedienungsmannschaft und hoch verwundbare Tankfahrzeuge benötigte, ist die Festtreibstoffrakete nahezu sofort von einem Minimum an Personal startklar zu machen. Wo bei den ersten Raketen peinlich darauf geachtet werden musste, dass die Hülle nicht beschädigt wurde, um Treibstoffverlust zu verhindern, kann mit der modernen Rakete recht grob umgegangen werden.

Aber, wie schon eine deutsche Publizistin anmerkte: "Jeder Vorteil hat seine ihm spezifischen Nachteile". Der Nachteil dieses Treibstoffs ist, dass Oxidans und Reaktans schon vermischt sein müssen. Die nach der normalen Zündung ablaufenden Vorgänge, also die Verbrennung des typischerweise eingesetzten Metallpulvers, laufen sozusagen in extremer Zeitlupe schon vorher ab. Oder anders ausgedrückt: Diese Treibstoffe sind nur begrenzt lagerfähig. Leider ist das auch nur begrenzt vorhersagbar, in der Praxis macht sich der Effekt durch verminderte Schubkraft und/oder verkürzte Brennphase bemerkbar.

Wenn also ein Kollege von den Raketenbatterien eine 30 oder 40 Jahre alte Rakete, von denen es nach Jahrzehnten wechselseitiger Aufrüstung eine Menge gibt, wenn er sie also auf eine 100 km entfernte feindliche Stellung abfeuert - im festen Glauben an die "Prospektangabe" 100 km Reichweite - dann mag diese Rakete schon nach z.B. 80 km einschlagen. Wenn sich an der Einschlagstelle dann nicht feindliche Truppen, sondern z.B. Zivilisten der eigenen Seite in einem Bahnhof befinden, ist die Tragödie perfekt.

Der einfach gestrickte Propagandaoffizier würde sich dann möglicherweise an einer wortreichen Entschuldigung für die zivilen Opfer versuchen. Der kluge Propagandaoffizier hingegen nutzt das Versagen der Technik geschickt aus: Nicht die eigenen Truppen, sondern der Feind hat nach seiner Lesart die Zivilisten beschossen, und zwar natürlich in voller Absicht! Ein abscheuliches Verbrechen, das von der "Weltgemeinschaft" am besten dadurch "gerächt" werden kann, indem man uns, den "Guten", noch mehr Raketen zur Verfügung stellt.

Wenn der Feind dann jedoch frech behauptet, den verwendeten Typ nie oder schon lange nicht mehr zu verwenden, muss man nur stur genug bei der eigenen Darstellung bleiben. Irgendwann wird die "Weltöffentlichkeit" müde und behält nur noch die zuerst in Umlauf gebrachte Version der Ereignisse in Erinnerung.



Rückzug des Feindes - Chance und Gefahr

Im Verlaufe eines Krieges kann es passieren, dass der Feind sich aus gewissen ursprünglich eroberten Gebieten zurückzieht - ob nun aus taktischen oder strategischen Gründen sei dahingestellt. Hier muss der Propagandaoffizier die gebotene Gelegenheit rasch nutzen, um die Moral sowohl der eigenen Truppen als auch der Zivilbevölkerung durch die frohe Kunde zu stärken. Am besten holt man einen lokalen Würdenträger, den Bürgermeister vielleicht, vor das Mikrofon und lässt ihn vom grossen Glücksfall, den der Rückzug des Feindes für seinen Ort bedeute, schwärmen. Das ist der leichte Teil.

Leider gibt es in jeder Armee Hitzköpfe, denen der Rückzug des Feindes nicht genug ist. Die vielleicht Teil jener Miliztruppen sind, deren Kriegsziele weit über die Verteidigung des Vaterlandes hinausgehen. Leute, die jeden Zivilisten, der sich temporär mit den Invasionstruppen arrangiert hat, als verachtenswerten Kollaborateur betrachten, der eigentlich kein Recht mehr hat, den heiligen Boden des Vaterlandes zu beschmutzen. Kommt dann noch eine in den Augen dieser Fanatiker "falsche" Ethnie hinzu, kann es zu sehr unschönen "Säuberungsaktionen" kommen.

Der kluge Propagandaoffizier darf auch hier nicht wegschauen, egal wie zuwider ihm persönlich diese Tötungen sind. Sondern er muss sich wieder überlegen, wie er auch diese unappetitliche Angelegenheit zum Vorteil der eigenen Seite ausnutzt. Ein gutes Mittel wäre die Erstellung eines Videos, welches den Anschein erweckt, unmittelbar nach der Befreiung des Ortes entstanden zu sein. Auf welchem, nicht so sehr deutlich, aber deutlich genug, an den Strassenrändern Leichen zu sehen sind. Viele Leichen. Leichen, die so aussehen, als hätte man sie hinterrücks auf der Flucht erschossen - was ja vielleicht auch der Fall war. Sind für die beabsichtigte optische Wirkung nicht genügend oder nur an den falschen Stellen liegende Leichen verfügbar, so verschiebt man sie halt' ein wenig, bis die Optik stimmt. Entweder im Audiokommentar oder in den mitverschickten Presseunterlagen muss ganz klar gemacht werden, dass der Feind für das entsetzliche Massaker verantwortlich sei.

Wenn die "Weltpresse" die erste Version des Videos geschluckt hat, muss man nur stur genug beim eigenen "Narrativ" bleiben. Sehr gut auch, wenn man Hundertschaften ausländischer Presse zur Inaugenscheinnahme des Massakers einladen kann. Haben diese, auf der hektischen Suche nach den schockierendsten Bildern, endgültig alle Indizien zertrampelt, muss man auch keine Angst mehr vor Untersuchungen irgendwelcher Expertengruppen mehr haben.



Weinende Mütter und Raketenwerfer

Weinende Mütter, das weiss jeder PR-Mann, eignen sich für rührselige Stories immer gut. Weinende Mütter mit Babys auf dem Arm natürlich noch mehr. Wenn man also eine Geburtsklinik hätte, die durch feindlichen Beschuss schwer beschädigt wäre, und könnte hinterher frierende weinende Mütter mit Babys auf dem Arm im Schockzustand zeigen, wäre es natürlich propagandistisch sehr gut.

Vielleicht tut uns der Gegner den Gefallen, wenn wir einen unserer Mehrfach-Raketenwerfer - ganz früher "Stalinorgel" genannt - in den Hof so eines Klinikkomplexes stellen und von dort feuern lassen. Gemäss der allgemein akzeptierten Einsatztaktik für solche Geräte wird man die Fahrzeuge nach Abschuss der Salve zwar schnellstmöglich zu verlegen suchen - aber möglicherweise trifft eine Feindrakete ja doch eines der Fahrzeuge. Dann gibt es eine grosse Explosion, die nicht nur das Fahrzeug in tausend Teile zerlegt, sondern auch die umliegenden Häuserfronten schwer beschädigen dürfte. Also die perfekte Arena für ein neues Video, welches die ganze Unmenschlichkeit des Feindes "demaskiert".

Ein kleiner handwerklicher Fehler wäre es, wenn man auf demselben Video Hilfskräfte in einem rund 4 m tiefen Explosionskrater nach irgend etwas suchend zeigen würde. Denn Verwundete dürfte man dort sicher nicht mehr finden, eher schon Teile des Raketenwerfers, die natürlich nicht auf das Videobild sollen.

In der vielleicht gar nicht so fernen Zukunft werden wir auch nicht mehr reale Mütter im Schnee frieren lassen müssen. Wenn uns das Oberkommando einen hollywood-tauglichen CGI-Arbeitsplatz samt Fachkräften sponsort, werden wir uns wie die Disney-Studios unsere eigene, voll-animierte Welt, freilich mit sehr anderen Inhalten, erstellen können. Manche reden da von "deep fake" - ich nenne das Erhebung der Propaganda zur Kunstform!



"Aus gutem Grund ist Juno rund"

Dieser uralte Werbespruch für eine längst nicht mehr existierende Zigarettenmarke ist in manchem Gehirn meiner Generation hängengeblieben, obwohl er ja eigentlich total sinnfrei ist. Wieso? Vielleicht gerade wegen der Sinnfreiheit, aber sicher auch wegen der ständigen Wiederholungen desselben, denen man damals ausgesetzt war. In jenen 1960er Jahren teilten sich nämlich nur wenige bundesweit Werbung treibende Firmen die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zugeteilten kurzen Werbeblöcke. Die Chancen also, ein und denselben Werbespot täglich mindestens einmal - oder öfter - präsentiert zu bekommen, waren also hoch.

Damit kommen wir zu einem der fundamentalsten Grundsätze erfolgreicher Werbung oder Propaganda: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung!!!

In unseren vaterlandstreuen ruretanischen Medien sollten sie mit dieser Forderung wohl offene Türen einrennen. Schwieriger wird es bei ausländischen Medien. Möglicherweise bekommen sie dabei etwas Hilfestellung aus dem Sternstreifenland, denn dort ist man mit der totalen medialen Vermarktung von Kriegen spätestens seit dem ersten US-Irak-Krieg von 1990 bestens vertraut. Jedenfalls könnte die Erstellung eines "style guide" für die Verwendung unseres Propagandamaterials nicht schaden. Und mit an oberster Stelle müsste stehen: In jeder Nachrichtensendung muss mindestens eine weinende ruretanische Mutter oder mindestens eine heftig klagende ruretanische Rentnerin zu sehen sein!

Sie sehen, liebe Soldatinnen und Soldaten, der Einsatz als Propagandaoffizier bzw. -Offizierin ist nicht nur hoch verantwortungsvoll, sondern verspricht auch sehr abwechslungsreich zu werden. Viel Erfolg!

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Für einen Text aus Ruretanien gilt selbstverständlich der altbekannte Hinweis im Abspann von Hollywoodfilmen:

"Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder vergangenen oder zukünftigen Handlungen wäre rein zufällig"

(April 2022)





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