Paranoia oder Coronoia? -

akademische Gefahren-Abwiegler



1. Klagen gegen die Corona-Massnahmen

Gegen einige oder "alle" wegen der Corona-Pandemie eingeleiteten Massnahmen wurden und werden von verschiedenen Seiten Klagen eingereicht bzw. einstweilige Aufhebungsverfügungen angestrebt. Den offenen Brief einer Rechtsanwältin Beate Bahner aus Heidelberg vom 07.04.2020 hat man mir zugeleitet, und ich will im folgenden eine Stellungnahme versuchen, ohne die kompletten 19 Seiten ihres Briefes wiederzugegeben. Eingeschoben sind stattdessen Auszüge aus dem Text, bei dem die Fettungen wohl von der Autorin selbst stammen, die blauen Unterstreichungen jedoch von mir.



2. Vorreden

Zunächst sind einige Vorbemerkungen zu machen:

a) Die Sorge um "Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" ist sicher ehrenwert, und es ist nicht abzustreiten, dass nicht nur finstere Potentaten in Nah und Fern, sondern auch die "westlichen Demokratien" auf den Geschmack kommen und versucht sein könnten, die jetzt so scheinbar reibungslos umgesetzten Einschränkungen der Freiheitsrechte auch dauerhaft zu installieren. Davor zu warnen ist legitim und angebracht.

b) Das Abschalten von Webseiten, wie es wohl bei Frau Bahner geschehen ist, stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Meinungsfreiheit dar und gehört beobachtet und untersucht. Allerdings ist die Umsetzung solcher Abschaltungen durchaus keine neue Erscheinung in Corona-Krisenzeiten, sondern wird z.B. von Facebook lange schon recht regelmässig durchgeführt - mal' auf Basis von Regierungsanfragen, mal' auf Basis angeblicher oder tatsächlicher Verstösse gegen die firmeneigenen "Guidelines".

c) Es könnte tatsächlich sein, dass wir in einigen Monaten (oder Jahren?) aufgrund entsprechender Auswertungen feststellen müssen, dass die Kontaktbegrenzungs-Massnahmen für die BRD zu weitreichend und/oder langfristig waren, weil es z.B. nie jene kritische "Masse" - oder genauer Anzahl und Durchdringung von Infizierenden - gab, die andernorts zu den eskalierenden Fallzahlen führten. Nur eben jetzt wissen "wir" es noch nicht.

d) Im Gegensatz zur Frau Bahner besitze ich keinerlei juristisches Fachwissen und werde deshalb auch nicht auf die juristischen Argumente eingehen, die angeblich den "grössten Rechtsskandal der Bundesrepublik" darstellen. Möglicherweise sind einige der Massnahmen wirklich nicht exakt verfassungsgemäss zustande gekommen; ich kann es nicht beurteilen.

Damit zur eigentlichen Kritik.



3. Panikmache

Frau Bahner nennt das, was sie als Pandemie-induzierte Paranoia wahrnimmt, kurz "Coronoia". Ihre Wortwahl diesbezüglich ist jedoch schrill und m.E. Panikmache von der anderen Seite. Sie sieht die "Vernichtung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" kommen (Seite 5):




Auch der "Tyrannei" der Bundesregierung müsse Einhalt geboten werden (S.19):




Und schliesslich möchte sie gar den allernetzten Notnagel, den unsere Verfassung für grundstürzende Umwerfungen vorsieht, nämlich das Widerstandrecht nach Artikel 20 des Grundgesetzes, eingesetzt wissen:




Freilich widerspricht sie sich da schon selbst, denn genau ihr (abgewiesener) Eilantrag an das Verwaltungsgericht zeigt ja, dass es durchaus noch andere "Abhilfen" gegen die befürchtete "Vernichtung der FDGO" gibt. Mir kommt das alles sehr übertrieben vor, und die Eignung zum Tyrannen würde ich sowohl Merkel als auch Spahn als auch Prof. Wieler dann doch absprechen.



5. Legalismus

Recht kleinteilig nimmt sich dagegen der folgende Angriff gegen die ihrer Ansicht nach unerlaubte Anwendung des "Seuchengesetzes" aus (S.7):




Weil es also nicht aufgeführt sei, würden die Gegenmassnahmen unrechtmässig sein. Eine angreifbare Logik...



6. Aufgaben der Gesundheitsämter

Im Folgenden beschreibt sie recht zutreffend die Aufgaben der Gesundheitsämter, wie sie eben bislang (für die bisherigen bekannten "Seuchen") bekannt waren (S.8):




Ob allerdings diese konkrete Feststellung etwa der "Ansteckungsverdächtigen" bei über 100'000 mittels Test relativ sicher ermittelten Infizierten (Stand 7.4.) für die Gesundheitsämter überhaupt leistbar ist (und erst recht, wenn noch einmal 100'000 oder 200'000 dazukämen) - darüber macht sich die Anwältin keine Gedanken.

Überhaupt ist die Welt der Frau Bahner überraschend klein, jenseits der BRD und ihren rund 1'800 Toten (ebenfalls Stand 7.4.) scheint es für sie nichts zu geben, kein Bergamo, kein Madrid, kein New York (wo gerade das seit jeher als "Toteninsel" genutzte Hart Island für Massengräber reaktiviert wird).



7. Falsche Schlüsse und behauptete Mehrheitsmeinung

Immer wieder fällt auf, dass die Autorin schlicht falsche Schlüsse zieht, ihr genehme Expertenmeinungen betont oder gleich zur Mehrheitsmeinung erklärt. Auf Seite 4 ist es noch die "Mehrheit der Epidemiologen":




Auf Seite 12 sind es dann schon "alle Experten":




Irgendwie muss meine Medienwahrnehmung gelitten haben, denn danach sind durchaus nicht alle Experten dieser Meinung. Und auch die zahlreich infizierten Mitglieder des medizinischen Personals z.B. in England, die doch - gerade in Anbetracht des Mangels an Schutzausrüstung - sicherlich die Handhygiene sehr ernst genommen haben dürften, sprechen gegen diese steile These.

Auf derselben Seite macht Frau Bahner auch ganz schnell aus "wahrscheinlich" zumindest implizierend ein "ausschliesslich":




Auf Seite 3 ein weiterer Fehlschluss:


Man kann vielleicht behaupten, dass sich rund 83 Millionen Deutsche gesund fühlen, ob sie aber in Hinblick auf Covid-19 auch gesund sind (oder schon wieder gesund sind oder aufgrund irgendeiner spezifischen Konstellation nie erkranken werden), darüber kann mangels Testkapazität momentan gar nichts ausgesagt werden. Sinnvolle Abschätzungen über die verschiedenen möglichen Stati der Bundesbürger wird es wohl erst nach Abschluss der laufenden Studien an Testpopulationen geben.

Erstaunlich auch dies auf Seite 5:




Da entscheidet also eine Juristin aufgrund ihrer "Prüfung der Rechtslage" eine biologisch-medizinische Frage, nämlich inwieweit die sich gesund Fühlenden eine gesundheitliche Gefahr für Ihre Mitbürger darstellen.

Geradezu Standard im "Lager der Gefahren-Abwiegler" der Verweis auf die Fallzahlen bei der letzten schweren "normalen" Grippewelle (S.6):




Dass Frau Bahner keine Quelle für die genannte "Ansicht von Experten" angibt, daran haben wir uns schon gewöhnt. Verdächtig aber der hier fehlende, aber ansonsten immer in diesen Diskussionen aufkommende Hinweis auf die Frage, wieviele an und wieviele mit der Virusinfektion gestorben sind. Die Frage ist aber durchaus gültig, nur eben für Covid-19 noch weniger zu beantworten als für "normale" Grippewellen. Wenn es tatsächlich "nur" eine für über 100-jährige tödliche Krankheit wäre, könnte man mit etwas Zynismus über die "nur 1800 Toten" hinweggehen. Offensichtlich (siehe Ausland) hat dieses Virus aber ein viel weiter reichendes Potential.

Erneut auf Seite 13 die Gesunderklärung von "99,9 %" der Bevölkerung, kombiniert mit der Behauptung, dass nachweislich keine Gefahr von ihnen ausgehen könne:




In einem Interview mit einem US-Militärmediziner empfahl dieser dagegen, dass - solange man es nicht sicher ausschliessen könne - davon auszugehen sei, dass "jeder andere infiziert ist, und dass man selber andere infizieren könne". Eine Vorsicht, die in den USA vielleicht wesentlich eher hätte angeraten werden sollen.



8. "Wes' Geistes Kind..."

Welcher Partei oder welchen Parteien Frau Bahner zugeneigt ist, weiss ich nicht und will es auch garnicht wissen. Aber welche Geisteshaltung da am Werke ist, zeigt sich m.E. an zwei weiteren Textstellen (S.11):


"Eigenverantwortung des Einzelnen" und gleichzeitig Beschränkung aller staatlichen Eingriffe auf ein Minimum sind für diese Weltanschauung kennzeichnend, folgerichtig dann auch hier (S.12-13):




Diese Richtung wird in den USA "libertär" genannt, und auch wenn sich einzelne aus dieser Grundhaltung dann in (für die USA) teilweise überraschend fortschrittliche Positionen entwickelt haben (beispielhaft sei Ron Paul *1 genannt), bedeutet es bei den meisten schlicht ein "jeder für sich, Gott gegen alle". Und dies hat dann auch reichlich Bezugspunkte zum Neo-Liberalismus eines Milton Friedman.

Frau Bahner wirft mit "Herdenimmunisierung" *2 einen Begriff aus der Epidemiologie ein, der normalerweise das Vorhandensein eines Impfstoffs voraussetzt. Durch rationellen Einsatz des Impfstoffs, eben bis zur jeweils ausreichenden Schwelle der Herdenimmunisierung, soll eine Prävalenz von Immunen geschaffen werden, die das erneute Auftauchen von Infizierungsketten verhindern. Ohne Impfstoff bedeutet "Herdenimmunisierung" zunächst einmal, der Infektion "ihren Lauf zu lassen", was je nach Art der Krankheit, der Letalität und Infektiösität eben sehr viele Opfer bedeuten kann.

Die von Frau Bahner hervorgehobene Kostenentlastung ist, so vermute ich, nicht nur eng auf das Budget der Krankenkassen abzielend. Da Covid-19, je nach Gesellschaft mehr oder minder stark, durchaus entlang sozialer Schichten letal wirkt, hat Frau Bahner wahrscheinlich auch die Kostenentlastung durch weniger Hartz-4-Bezieher, weniger Langzeit-Rentner, weniger einkommensteuerbefreite Geringverdiener im Sinn. In den USA jedenfalls sind unter den Covid-19-Toten überproportional viele "african americans", die wiederum unverhältnismässig zu den Einkommensschwachen gehören. Wem das alles sehr zynisch vorkommt, dann wahrscheinlich deshalb, weil es genau das ist.



9. Blick zurück: 1962

Zusammengenommen sind mindestens die medizinisch-biologischen oder "technischen" Argumente von Frau Bahner wenig stichhaltig. Dass ich zu den juristischen Argumenten wenig sagen kann, hatte ich schon geschrieben. Aber einen Blick zurück kann ich wagen, nämlich in das 1962, als sich in Norddeutschland und Hamburg die grosse Sturmflut ereignete, der viele Menschenleben zum Opfer fielen. Die Rolle des damaligen Hamburger Innensenators Helmut Schmidt ist dann Jahrzehnte später von einigen deutlich relativiert worden *3, gerade um die berühmten Hubschraubereinsätze (siehe z.B. hier: www.hamburg-bildarchiv.de) gibt es konkurrierende Darstellungen - wer sie wann wo und mit welchen Argumenten veranlasst habe, und so fort.

Aber auch jenseits der möglicherweise nachträglich erfolgten "Aufpolierung" der "Heldenfigur" Schmidt hat doch sein Wort, er habe damals nicht erst in den Gesetzen nachgelesen, ob alles Angeordnete auch vollumfänglich dem bestehenden Recht entspreche, zumindest seinen Zeitgenossen eingeleuchtet.

Hat er damit unterschwellige Sehnsüchte nach einem "starken Mann" bedient? Möglicherweise. Im 21. Jahrhundert sind solche Sehnsüchte wohl nicht mehr so stark, und vielleicht benötigt diese Krise auch garnicht "Helden" im Stil der Katastrophenfilme. Aber die Einsicht, dass gegen die Epidemie gehandelt werden musste, ist in den meisten Ländern mindestens Europas vorherrschend, weswegen auch die Lockdown-Massnahmen (bislang) recht stoisch ertragen werden.



9. Den Lockdown auflösen - wie?

Unfreiwillig bin ich mit diesem Text zu einem Verteidiger der bisherigen BRD-Regierungspolitik geworden, und das hängt sicher auch damit zusammen, dass mir persönlich aus ökonomischen, räumlichen und vielleicht auch psychischen Gründen die Kontaktverbote leichter fallen mögen als anderen.

Wenn Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede am Samstag (11.04.2020) auf die besondere Härte hinwies, die all dies z.B. für die "Alleinerziehenden in der engen Wohnung ohne Balkon und Garten" bedeute, so kann man das nur bejahen. Obwohl also die Mittel der "sozialen Distanzierung", soweit ich es beurteilen kann, von der Mehrzahl der Experten als wirksames erstes Mittel der Epidemiebekämpfung angesehen werden, ist auch klar, dass so ein Lockdown irgendwann in möglichst sinnvoller Form "gelockert" und schliesslich auch aufgehoben werden muss - aus wirtschaftlichen, sozialen und auch psychischen Gründen heraus. Und diese Frage wird auch nach je unterschiedlicher wirtschaftlicher und medizinischer Lage der betroffenen Gesellschaften unterschiedlich beantwortet werden müssen *4.

Schon bei meinem Text zu Herrn Hararis TIME-Artikel (www.truthorconsequences.de) hatte ich darauf hingewiesen, dass nun aus den verschiedensten Ecken heraus das tiefe Bedürfnis nach "Normalisierung" bedient werden wird. Diskussionen über Lockdown-Lockerungen müssen natürlich geführt werden, eben mit den Mitteln demokratischer Gesellschaften. Eine Panikmache ist aber abzulehnen, egal ob sie aus übertriebener Vorsicht herrührt, oder aber aus einer unangebrachten libertären "laissez-faire"-Haltung heraus.



(April 2020)




*1 siehe die Webseite seiner Organisation: ronpaulinstitute.org

*2 siehe den recht langen Wikipedia-Artikel dazu: wikipedia.org

*3 interessanterweise gerade von Redakteuren "seines" Blattes DIE ZEIT

*4 Insbesondere ist hier der unterschiedliche wechselseitige Gefährdungsgrad bei Metropol-, Stadt- oder Dorfbesiedlung zu berücksichtigen, oder etwas simpler formuliert: Für ein abgelegenes Dorf, egal ob in Oberbayern, Sibirien oder Iowa gelegen, können andere Regeln sinnvoll sein als für München, Moskau oder Milwaukee.



www.truthorconsequences.de