Mit Herrn Harari in die Zukunft?



1. Ein "Zukunftsforscher" meldet sich zu Wort

Der erfolgreiche israelische Sachbuchautor Yuval Noah Harari ("Homo Deus - A brief History of Tomorrow") hat sich in der Zeitschrift TIME vom 30.03.2020 *1 (und nicht nur dort *2) zu Wort gemeldet mit einem mit "Disease in a World without a Leader" übertitelten Artikel.

Gelich am Anfang lässt er uns klar wissen, worum es ihm geht: "Many people blame the coronavirus epidemic on globalization, and say that the only way to prevent more such outbreaks is to de-globalize the world: build walls, restrict travel, reduce trade. However, while short-term quarantine is essential to stop epidemics, long-term isolationism will lead to economic collapse without offering any real protection against infectious diseases. Just the opposite. The real antidote to epidemics is cooperation."

(Eigene Übersetzung: "Viele Menschen halten die Globalisierung für schuldig an der Coronavirus-Epidemie, und sie behaupten, der einzige Weg zur Verhinderung weiterer solcher Ausbrüche sei die de-Globalisierung der Welt: Mauern errichten, Reiseverkehr beschränken, Handel reduzieren. Jedoch ist zwar die kurzfristige Quarantäne notwendig, um Epidemien zu stoppen, aber ein langfristiger Isolationismus wird zum ökonomischem Kollaps führen, ohne gleichzeitig einen wirklichen Schutz gegen infektiöse Krankheiten zu bieten. Ganz im Gegenteil. Das wirkliche Gegenmittel zu Epidemien ist Kooperation.")

Eine klare Ansage also: "Die Globalisierung", neuerlich zahlreich angefeindet, möge nach dem Willen von Herrn Harari (nach einem kurzen krisenbedingten "Aussetzer") möglichst bald wieder voll wirksam werden. Und im Verlauf des Artikels wird er dann auch einige Gründe angeben, warum das so sein sollte - aber dazu später.



2. Unwissenschaftlicher Ansatz?

Herr Harari ist zwar "nur" Geisteswissenschaftler (Historiker), trotzdem verblüfft doch sehr, dass er nicht einmal einen Versuch macht, dem behaupteten platten "Globalisierungs-NEIN" der Globalisierungs-Kritiker eine differenzierte Sicht der Auswirkungen derselben entgegenzustellen. Denn unter "Globalisierung" wurde und wird ja sehr verschiedenes verstanden:

- die weltweite Verfügbarkeit von gewissen Waren, globale "Marken" wie Apple, Google, Amazon

- die weltweite "Vernetzung" von "Lieferketten" (oder umgekehrt die Atomisierung der Fertigungsprozesse)

- der freie Fluss von Waren, Kapital, Menschen (oder "human resources") und Dienstleistungen *3

- globaler Tourismus mit keinen oder geringen Beschränkungen (z.B. Visa)

- weltweiter Informationsaustausch, oftmals gleichgesetzt mit "dem Internet"

- supranationale Institutionen wie WTO, Weltbank, EU etc.

- kontinentale und transkontinentale "Freihandelszonen" (NAFTA, TTIP, CETA, TPP...) samt ISDS *4

- internationaler Finanzkapitalismus (die "Finanzialisierung")

- usf.

Nun hängt zwar gemäss dem bekannten Spruch "alles mit allem zusammen", andererseits wären ja einige Punkte der Liste zumindest theoretisch auch ohne die anderen denkbar. Auch herrscht ja durchaus Unklarheit darüber, wann denn nun "die Globalisierung" begonnen hat. Einem längeren Artikel in der deutschen ZEIT vor einigen Jahren konnte ich die Ansicht des Autors entnehmen, dass die Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg eigentlich die erste Phase der Globalisierung darstellen würden, und dass leider die schicksalhaften Weltkriege eine unterunbrochene Globalisierungs- und Wohlstandsepoche verhindert hätten. Und aufbauend auf den Zahlen zum Anteil des Aussenhandels am Bruttoinlandsprodukt der europäischen Staaten hat diese These auch durchaus einen faktischen Hintergrund. Andererseits: Wenn wir uns das Leben nicht nur der armen Leute, sondern auch der "gehobeneren" Schichten jener Zeit vorzustellen versuchen, kommt uns das Wort "Globalisierung" nicht so recht in den Sinn. Ein Allgemeinbegriff wurde "Globalisierung" zumindest in Deutschland erst in den 1990er Jahren.



3. Die gute Globalisierung

Herr Harari hält sich nicht lang mit möglicherweise unangenehmen Themen wie Freihandelsabkommen oder exorbitanter Vermögenskonzentration auf, sondern preist statt dessen den internationalen Informationsaustausch, der der modernen Medizin die Mittel in die Hand gebe, den "Krieg gegen Epidemien" zu gewinnen ("winning the war against epidemics"). Dieses Lob kann man durchaus teilen, aber was hat dies mit "der Globalisierung" zu tun? Am ehesten hat es noch mit den modernen Kommunikationsmitteln (Internet etc.) zu tun, die nun ohne Zweifel den Informationsaustausch erleichtern und vertiefen. Und man sieht diese Zusammenarbeit ja gerade in der Coronakrise sehr konkret - ohne Zweifel arbeiten die Forscher in Asien, Europa und Amerika intensiv zusammen, um Massnahmen zur Bekämpfung der Epidemie, Arzneimittel oder Seren zu entwickeln.

Nur ist diese internationale Zusammenarbeit auf Forscherebene alles andere als neu, durchaus kein "Nebenprodukt" der wirtschaftlichen Globalisierung oder auch nur des IT-Fortschritts. Wer das Buch "Heller als tausend Sonnen" von Robert Jungk liest, erfährt, wie schon in den 1920er und 1930er Jahren die Forscher, in diesem Fall der Teilchenphysik, eine intensiv miteinander kommunizierende Gemeinschaft bildeten. Gewiss fand der Austausch mit aus heutiger Sicht antiquierten und langsamen Mitteln (Briefe, Veröffentlichungen in Journalen, Kongressen, gelegentlich Telefon-"Konferenzen") statt, aber doch schnell genug. So konnte Leo Szilard keine 4 Monate, nachdem Otto Hahn und Lise Meitner 1938 in Berlin die Kernspaltung "entdeckt" hatten, das fragliche Experiment in seinem Labor in New York nachstellen und bestätigen.

Man kann sogar noch weiter zurück gehen und sich überlegen, warum - keine 5 Jahre nachdem 1825 die erste Eisenbahn im heutigen Sinne, die "Stockton & Darlington Railway" in England, ihren Betrieb aufnahm - schon in den USA die erste gleichartige Einrichtung geschaffen wurde, die "Baltimore & Ohio Railroad". Und weitere 5 Jahre später (1835) fiel der Startschuss für das deutsche Eisenbahnwesen - die "Ludwigsbahn" zwischen Nürnberg und Fürth. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts waren England, die USA und Kontinentaleuropa von Tausenden Kilometern Eisenbahnstrecken durchzogen - in einer Zeit, als fast überall noch Fürsten und Könige regierten. Ohne regen Informationsaustausch (der freilich auch manchmal eher als "Industriespionage" bezeichnet werden konnte) wäre dies alles nicht möglich gewesen.

Kurz: Hier will uns Herr Harari einen ganz alten Hut als brandneu verkaufen.



4. "Die Grenze zwischen der Menschenwelt und der Virus-Sphäre"

Da Herr Harari alle derzeitigen Verkehrsbeschränkungen möglichst bald wieder aufgehoben sehen möchte, muss er noch eine Argumentationslinie finden, warum diese Art Grenzkontrollen zumindest langfristig unsinnig seien. Er stellt die These auf, dass "die Menschheit" ("humanity") eine ganz andere Grenze als die zwischen Staaten intensiv bewachen müsse, nämlich die zwischen der "Menschenwelt und der Virus-Sphäre" ("the border between the human world and the virus-sphere"). Abgesehen davon, dass die Postulierung einer festen "Grenze" zwischen Menschen und Viren wissenschaftlich fraglich ist (schliesslich leben auch "ohne Corona" alle Menschen permanent mit Viren und Bakterien verschiedenster Art auf und im Körper) - wieso soll langfristig sinnlos sein, was ja offensichtlich momentan dringend erforderlich ist und verlangt wird, eben die möglichst zuverlässige Aussonderung der Infizierten von den nicht Infizierten *5.

Richtig ist natürlich, das Forschung an den mikrobiologischen Interaktionen wichtig und im Moment auch hoch dringlich ist. Aber das so oft verwendete Wort *6 "Viren kennen keine Grenzen" ist nicht nur eine weitere, hilflos vermenschlichende Terminologie, sondern in Bezug auf die konkrete Bekämpfung in die Irre führend: Die Viren mögen zwar keine Grenzen kennen, die Träger der Viren, die Menschen, aber sehr wohl.



5. Flugverkehr

Ein medial m.E. sehr unterbelichtetes Thema ist die Rolle der internationalen Passagierluftfahrt bei der Verbreitung von Epidemien. Herr Harari ist da mit einem Satz schon sehr nahe dran, wenn er (wiederum vermenschlichend) davon spricht, dass "ein Virus heute mit der Business class in 24 Stunden um die Welt reisen und Millionenstädte infizieren" könne ("Today a virus can travel business class across the world in 24 hours and infect megacities of millions"). Schon im nächsten Satz beruhigt er den Leser, dass sowohl Anzahl als auch Umfang grosser Epidemien trotzdem in letzter Zeit "dramatisch zurückgegangen" seien, und er führt dies auf sein Lieblingsmotto "nicht Isolation, sondern Information" zurück.

Wenn wir uns die Frage stellen, warum aber z.B. die SARS-Epidemie von 2003 (die weltweit 800 Todesopfer forderte) soviel weniger schlimm verlief als die aktuelle COVID-19-Krise (aktuell [2.4.] weltweit über 40'000 Opfer), dann würde meine Antwort auf 2 Hauptaspekte abzielen:

a) Covid-19 ist schlicht "biologisch-technisch" anders als SARS-2003. So wie ein Kettenfahrzeug anderes Terrain bewältigen kann als ein normales Radfahrzeug, so überwindet Covid-19 andere biologische Barrieren als andere Viren. Dazu kommt wohl noch die ungewohnte Kombination von hoher Infektiösität mit geringer Letalität für z.B. junge Menschen (übrigens der einzige Lichtblick für Länder wie Indien oder Nigeria - die vergleichsweise junge Bevölkerung).

b) Die enorm gewachsene internationale Mobilität vieler Menschen. Im Jahr 1970 war die Wahrscheinlichkeit für einen Mitteleuropäer, bis auf Armlänge an einen Chinesen (noch dazu speziell aus Wuhan) zu kommen, nahezu null. 1980 war dieselbe kaum höher, 1990 dann definitiv nicht mehr null, und spätestens seit 2000 steigt die Wahrscheinlichkeit steil an - siehe die Passagierzahlen des internationalen Luftverkehrs. In einer Publikation*7 vom Februar dieses Jahres wird diese Grafik präsentiert:




Ich weiss, dass ich mir mit meiner diesbezüglichen Meinung nicht allzuviel spontane Zustimmung einholen werde, trotzdem erscheint mir die im selben Artikel genannte Zahl von 9,5% jährlichem (!) Zuwachs in Asien aber schon aus ökologischen Gründen schlichtweg erschreckend. Die Korrelation der ersten Ausbreitungpunkte mit den grossen Luftverkehrs-"Hubs" betont für mich noch einmal den Zusammenhang zwischen Pandemie-Ausbreitung und Luftverkehr.

Eine Lehre für die Post-COVID-19-Welt wird sein, dass wir mindestens im pandemischen Krisenfall viel schneller den internationalen Flugverkehr auf Null oder nahezu Null reduzieren müssen. So werden sich die Leute von Webasto, die damals das Meeting mit der Kollegin aus Wuhan hatten, heute sicher fragen: War das eigentlich nötig? Hätten wir das nicht auch per Videokonferenz erledigen können, oder sogar noch simpler per Telefon?

Ich gönne jedem seine Reisewünsche, in einer hoffentlich wieder von Covid-19 "befreiten" (oder eingedämmten) Welt soll es natürlich auch wieder Flugverkehr geben. Aber ist die jährliche Fern-Flugreise wirklich "notwendig"? Wäre es so schlimm, wenn die USA-Reise wieder ein "once in a lifetime"-Ereignis wäre?

Müssen Hundertschaften von Business-Consultants, Anwälten, IT-Spezialisten etc. wirklich permanent in der Luft sein, damit unsere Versorgung mit, satirisch formuliert, "Klopapier und Nudeln" gewährleistet bleibt? Oder um es mit den Worten einer Comic-Figur *8 zu fassen: "Tut das not?"

Es steht zu befürchten, dass die grossen Airlines wieder zu den ersten gehören werden, die von den Regierungen der Welt "gerettet" werden, z.B. hat der Chef der Lufthansa schon sehr früh solches gefordert. Der wirtschaftliche Exitus kleinerer Airlines wird zu noch stärkerer Konzentration führen. Für mich umso mehr Anlass, jetzt über die zahlreichen direkten und indirekten Förderungen für die Luftfahrtindustrie nachzudenken - das fängt mit der längst überfälligen Besteuerung von Flug-Kerosin an und hört mit den Zuschüssen für Regional- und Grossflughäfen nicht auf. Fliegen muss schlicht deutlich teurer werden. *9



6. "Halbe Geschichten" vom Historiker

Viel Mühe verwendet Harari auch darauf, den Ausbruch von Epidemien als unvermeidliches Schicksal darzustellen, denen man eben nur mit Wissenschaft und moderner Medizin beikommen könne. Als Historiker, der sowohl in seinem ersten Bestseller ("Sapiens - A Brief History of Humankind") als auch in "Homo Deus - A Brief History of Tomorrow" jeweils Parforceritte durch die menschliche Geschichte darbietet, fällt es ihm nicht schwer, (scheinbar) passende Beispiele zu präsentieren. So hätte sich die "Schwarze Pest" des Mittelalters (ab ca. 1347) in weniger als 10 Jahren über Kleinasien und Europa verbreitet, ganz ohne Flugzeuge oder Kreuzfahrtschiffe.

Das ist zunächst richtig, nur "vergisst" Herr Harari einen wichtigen Teil der Geschichte mitzuliefern. Denn die Menschen des Mittelalters, ohne jede Kenntnis der virologischen und epidemiologischen Grundlagen, taten ja in den meisten Fällen genau das, was uns heutzutage entweder abgeraten oder gar verboten ist: Sobald ihnen die Lage an ihrem Wohnort unerträglich erschien, flohen sie in das nächste Dorf, die nächste Stadt oder die nächste Region und nahmen dabei in aller Regel den Erreger gleich mit. Bei einem solchen "prozyklischen" Verhalten reicht dann auch Ochsenkarren-Tempo aus, um binnen einer Dekade einen Erreger von einem Ende Europas zum anderen zu bringen.

Harari führt auch die "Spanische Grippe" von 1918-20 an, die sozusagen das Modell für alle folgenden Pandemien wurde. Auch hier "vergisst" er einen wichtigen Teil der Geschichte: Die weltweite Ausbreitung hatte natürlich auch mit der Demobilisierung grosser Armeen zu tun, die eben im ersten Weltkrieg oft an weit vom Heimatort entfernten Kriegsschauplätzen eingesetzt worden waren (unter anderem die zahlreichen Kolonialtruppen Frankreichs und Grossbritanniens), die jetzt meist an Bord von überfüllten Truppentransportschiffen zurückströmten. Den engen Zusammenhang zwischen Kriegshandlungen, Bedingungen in den Truppen- und Ausbildungslagern und den globalen Menschenströmen zu verschweigen, ist mehr als nur eine Nachlässigkeit des Historikers Harari. Dabei hätte er ebensogut wie wir nicht nur in der Wikipedia (z.B. hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Spanish_flu) detaillierte Informationen leicht finden können.

Richtig ist natürlich, dass wir die Entstehung irgendwelcher neuen Erreger nicht verhindern können, und ebenso richtig, dass intensiver Informationsaustausch, wissenschaftliche Forschung und möglichst umfassende medizinische Versorgung dann ganz wichtige Teile der Pandemiebekämpfung sind. Nur eben nicht die einzigen, und die Frage, ob so ein neues Virusvorkommen dann zu einer landesweiten Epidemie oder gar zu einen weltweiten Pandemie führt, hängt ganz wesentlich mit dem Verhalten der Menschen zusammen, und dieses wiederum wesentlich von den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen.



7. "Wes' Brot ich ess', des' Lied ich sing"

Dieses alte deutsche Sprichwort stammt natürlich aus einer Zeit, als die Entlohnung oft noch in Naturalien stattfand. Der Zusammenhang ist aber heute genauso gültig wie damals, oder mit einem anderen Sprichwort ausgedrückt: "Wer zahlt, bestimmt die Musik".

Herr Harari ist nun offensichtlich nicht Angestellter eines Konzerns oder eines Think Tanks (es sei denn, die "Hebrew University of Jerusalem" wäre ein solcher), insofern mag er als neutral erscheinen. Trotzdem kann man schon aufgrund seines auf der Homepage publizierten Zeitplans erkennen, dass er seit 2017 über 36 Metropolen der Welt auf 3 Kontinenten teilweise mehrfach besucht hat; in der Mehrzahl, um Vorträge zu halten oder an Podiumsdiskussionen teilzunehmen. Vermutlich hat er zur Anreise nicht eine Segelyacht benutzt wie Greta Thunberg, sondern die üblichen Linienfüge. Als ausgesprochener Vielflieger hat er also ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse daran, dass weltweiter Flugverkehr möglichst bald wieder aufgenommen wird, und zwar am besten zu nicht drastisch gestiegenen Preisen.

Wichtiger und anhand des "Itenary" auch auffallender ist aber die oft mehrtägige Präsenz Hararis an einem speziellen Ort und bei einer speziellen Veranstaltung, nämlich des "World Economic Forum" in Davos. Dort treffen sich bekanntlich die Mächtigen und Reichen der Welt, um, wie es die eigene Webseite verkündet, die "globalen, regionalen und industriellen Themensetzungen zu formen" ("The Forum engages the foremost political, business, cultural and other leaders of society to shape global, regional and industry agendas.")

Nun ist jemand nicht automatisch "verbrannt", wenn er einmal in Davos vorträgt, das wollen wir ja etwa "unserer Greta" nicht vorwerfen. Aber die Dauerpräsenz Hararis zeigt m.E. schon, dass er recht nahtlos in das "agenda setting" der Davoser Eliten, der Obamas und Merkels, der Bezos und Gates, der Lagardes und Greenspans hineinpasst. Jedenfalls habe ich von ihm noch kein Wort gelesen, das fundamentale Kritik an diesen Eliten übt.



8. Der Historiker wird zum Komiker

Bin ich mit meinem Vorwurf, Herr Harari übe keine Kritik an den globalen Eliten, vielleicht doch zu harsch? Wenn er gegen Ende des Aufsatzes innig beklagt, dass die Welt der Krise nunmehr ohne globale Führer entgegentrete ("… we are now facing the crisis bereft of global leaders...") und damit unübersehbar, wenngleich ohne Trump direkt zu nennen, die von diesem umgesetzte Politik der Distanzierung bzw. Kündigung internationaler Abkommen meint - ist das nicht Kritik genug? Schon in den nächsten Sätzen, in denen uns Harari weiszumachen versucht, dass nun ausgerechnet die USA es gewesen wären, die in den Krisen von 2008 (Finanzkrise) und 2014 (Ebola-Epidemie) als solch globaler Führer gehandelt hätten, die die Welt "inspiriert und organisiert" hätten ("...leaders who can inspire, organize..."), entlarvt sich das als pure Propaganda.

Im Grunde ist das vollkommen lachhaft: Jene US-Regierungen, die in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren organisatorischen, finanziellen und militärischen Aufwand betrieben haben, um grausame Kriege zu führen oder zu sponsern, um missliebige Regierungen zu stürzen, einige der ärmsten Länder der Welt (Venezuela, Nordkorea...) mit vernichtenden ökonomischen Sanktionen zu überziehen und über all dem vergessen haben, im eigenen Land ein halbwegs zivilisiertes Gesundheitssystem auf die Beine zu stellen - diese sollen, wenn nur der böse Trump endlich weg ist, wieder die "Weltführerrolle" übernehmen?

Es ist ja eigentlich eine ziemliche Arroganz, derart die Notwendigkeit einer Weltführungsnation postulieren zu wollen. Sind denn Regierungen und Völker der anderen Nationen allesamt derart naiv oder missgeleitet, dass sie der führenden oder zwingenden Hand eines "global leaders" bedürften?

Freilich echauffiere ich mich über Herrn Hararis Chuzpe wohl unnötig, denn seine Worte in TIME oder der Financial Times sind ja vorrangig an das US-Publikum gerichtet. Dort hört man es gerne, wenn ein Ausländer die Führungsfähigkeiten der eigenen Nation preist. Dort ist man offenbar immer noch überzeugt, dass, wer unter dem Sternenbanner die US-Hymne "land of the free, home of the brave" intoniere, eben automatisch auch selbst zu den Mutigen und Freien gehöre, ein Mitglied der "indispensable nation" mit eben exzeptionellen Rechten sei.



9. Einer unter vielen

Das neue Coronavirus ist nicht das Produkt "des Kapitalismus", "der Oekonomisierung" oder "der Globalisierung", sondern eine weitere "Laune der Natur". Es besitzt kein Gehirn, keine Absichten oder "Strategien", sondern ist nur eine Ansammlung von Nukleinsäuren mit der Fähigkeit zur Replikation. Auch seine spezifische Pathogenität ist "Zufall", auch wenn sie uns aktuell (zu Recht) sehr bedrohlich vorkommt.

Unsere Möglichkeiten, der Gefahr durch dieses Virus zu begegnen, sind aber sehr wohl abhängig von den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten, die unser Leben strukturieren, mithin von unserer hoffentlich vernunftgetriebenen Gestaltungsfähigkeit.

Momentan sehnen sich alle nach einer baldigen Rückkehr ins "Normal-Leben", in den Zustand "vor der Krise" zurück, diese Sehnsucht bedient auch Herr Harari. Aber auch wenn uns an diesen "status-quo-ante" mehr oder minder gut gewöhnt hatten, so war eben nicht alles "gut". Die Länder, die momentan am stärksten betroffen sind, zeigen doch klar, dass mindestens die Durch-Oekonomisierung des Gesundheitswesens *10 ein schwerwiegender Fehler war und dringend korrigiert werden muss - neben vielen anderen Dingen.

Es wird in nächster Zeit nicht an Stimmen mangeln, die die Devise "weitermachen wie vorher" in der einen oder anderen Variante propagieren, oft genug wie bei Herrn Harari mit schönen Worten wie "Vertrauen", "globale Kooperation", "Inspiration" oder "Eintracht" oder gar "Solidarität" bemäntelt. Wir sollten an solche Appelle wie immer zuerst mit der Fragestellung "cui boni?", also wem nützt es, herangehen. Herr Harari hat das für sich wohl schon beantwortet, er möchte den Eliten auch weiterhin die Pfründen sichern.

(April 2020)




*1 Leider hat TIME die unselige Angewohnheit, die Ausgaben vorzudatieren - in meinem Briefkasten war diese Ausgabe etwa am 27.03.2020.

*2 Ein über weite Strecken inhaltsgleicher Artikel erschien in der Financial Times Online-Ausgabe (www.ft.com) unter dem Titel "The world after coronavirus". Auch die Online-Version des TIME-Artikels selbst ist (zwischenzeitlich?) leicht verändert unter dem Titel ""In the Battle Against Coronavirus, Humanity Lacks Leadership": www.time.com . Auch sonst ist Harari in jüngster Zeit ausserordentlich aktiv, seiner Webseite entnehme ich, dass er im März ebenfalls im Handelsblatt, im SPIEGEL und in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert hat und im Sender 3sat aufgetreten ist.

*3 Dies sind denn auch die pompös "vier Grundfreiheiten" genannten Grundsätze der EU.

*4 ISDS = Investor State Dispute Settlement, die in vielen Freihandelsabkommen vorgesehenen privaten "Schiedsgerichte".

*5 Ein italienischer Arzt, mitten in einem mit Intensivpatienten überfüllten Raum stehend, hat es etwa so formuliert: "Das Wichtigste ist jetzt, die Infizierten von den nicht infizierten zu trennen." Das ist bei Epidemien nunmal die simple Wahrheit.

*6 Mit diesen Worten begründete etwa Frankreichs Präsident Macron sein Festhalten an "offenen" Grenzen zu z.B. Deutschland, als das Elsass schon zur "Risikozone" erklärt worden war.

*7 Quelle: https://tseconomist.com/2020/02/18/the-growth-of-world-air-traffic-and-its-impact-on-climate-change/

"TSECONOMIST" ist eine Publikation der Toulouse School of Economics.

*8 Die Figur "Meister Röhrig" aus den Brösel-Comics.

*9 Dazu könnten auch indirekte Massnahmen führen, etwa die Verpflichtung aller Airlines, ihre Passagiere im Falle einer Epidemie-Einreisesperre binnen 24h kostenlos wieder an den Ausgangspunkt zurückzubringen.

*10 Neben den mittlerweile wohlfeilen Worten des (indirekten) Lobes für Ärzte, Pfleger und Wissenschaftler zeigt Harari in seinem langen Text nicht eine Idee auf, wie die Gesundheitssysteme nun besser auf solche Epidemien oder Pandemien vorbereitet werden könnten. Wenn man bedenkt, dass es nicht die reichen USA sind, die Ärzteteams in Corona-Notstandsgebiete schicken, sondern das vergleichsweise bettelarme Kuba, dann wird klar, dass da vieles in den letzten Jahrzehnten schrecklich schiefgelaufen ist. Gerade das italienische Drama haben zu einem Gutteil die bundesdeutschen Regierungen zu verantworten, dazu (nochmals) der Verweis auf diesen Beitrag von Norbert Häring.



ergänzend zu *2:


online: "In the Battle Against Coronavirus, Humanity Lacks Leadership"

>Many people blame the coronavirus epidemic on globalization, and say that the only way to prevent more such outbreaks is to de-globalize the world. Build walls, restrict travel, reduce trade. However, while short-term quarantine is essential to stop epidemics, long-term isolationism will lead to economic collapse without offering any real protection against infectious diseases. Just the opposite. The real antidote to epidemic is not segregation, but rather cooperation.<


print: "Disease in a World without a Leader"

>Many people blame the coronavirus epidemic on globalization, and say that the only way to prevent more such outbreaks is to de-globalize the world: build walls, restrict travel, reduce trade. However, while short-term quarantine is essential to stop epidemics, long-term isolationism will lead to economic collapse without offering any real protection against infectious diseases. Just the opposite. The real antidote to epidemics is cooperation.<





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