Der vergessene Krieg


Verschweigen ist immer eine stumme Lüge.

(F.P.Rinnhofer)



A) Im Januar 2010 ereignete sich ein Erdbeben in Haiti, welches viele Todesopfer forderte. Im Oktober folgte, auch aufgrund der grossflächig zusammengebrochenen Infrastruktur, eine Cholera-Epidemie. Diese Epidemie, die noch heute nicht vollständig abgeklungen ist, sollte im Laufe der Jahre rund 700'000 Erkrankte *1 fordern.

Die "Weltgemeinschaft" tat in dieser Situation das (leider allzuoft) Übliche und Notwendige: Sowohl staatliche als auch zivile Organisationen in den wohlhabenden Staaten entsandten Flugzeuge (und später Schiffe) mit Hilfsmaterial, Rettungskräften und medizinischen Betreuern. Für alle diese Aktivitäten musste natürlich über Spendenaufrufe Geld eingesammelt werden.

Und die etablierten Medien in Deutschland, die grossen Fernsehsender und die grossen Zeitungen, berichteten mit grossen "Aufhängern" (z.B. ARD-Brennpunkt...) über die Notstände, und immer wieder wurden die Spendenkonten der einschlägigen Organisationen gross ins Bild gerückt.

Ob diese Hilfen immer rechtzeitig kamen, ob alles sinnvoll durchorganisiert war, ob Mittel immer sachgerecht verwendet wurden oder vielleicht ungewollt in dunklen Kanälen versickerten - darüber kann man trefflich streiten.

Aber die Tatsache der internationalen Hilfe an sich und der Bereitschaft der deutschen Medien, darüber zu berichten, steht ausser Frage.



B) Im März 2015 entwickelte sich im Jemen ein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Volksgruppen und Milizen. Recht bald intervenierte der Nachbarstaat Saudi-Arabien auf der Seite der Unterstützer des (ehemaligen?) Präsidenten Hadi, und dies nicht nur mit Waffenlieferungen. Auch die saudische Luftwaffe, die über dem Jemen praktisch unbeschränkte Lufthoheit besitzt, bombardiert seitdem mit wechselnder Intensität "gegnerische Stellungen".

Im Jemen, dem ärmsten Land auf der arabischen Halbinsel, verschlimmern sich seitdem die Zustände rapide. Selbst die noch bestehenden Krankenhäuser und Lazarette können kaum noch medizinische Hilfe leisten, weil Nachschub an medizinischem Material fehlt. Dazu trägt auch die fast vollständige Seeblockade durch Saudi-Arabien bei, das natürlich auch die nördliche Landgrenze des Jemen fast beliebig abriegeln kann (weswegen es wohl auch bislang nur rund 170'000 Flüchtlinge aus dem Jemen in andere Länder gibt, während geschätzte 2,8 Millionen im Lande selber auf der Flucht sind).

Unter diesen Bedingungen verwundert es nicht, dass es im Oktober 2016 zum Ausbruch einer Cholera-Epidemie kam. Die Zahl der Erkrankten wird auf etwa 200'000 geschätzt.

Mindestens in Bezug auf den Cholera-Ausbruch haben wir es also im Jemen mit einer Situation zu tun, die sich durchaus in ähnlicher Grössenordnung abspielt wie damals in Haiti (ich vermeide hier einmal bewusst den mittlerweile abgedroschenen Ausdruck "humanitäre Katastrophe").

Zynischerweise könnte man argumentieren, dass die Jemeniten "selber schuld" seien - schliesslich hätten sie ja mit dem Bürgerkrieg nicht anfangen müssen. Allerdings stellt sich dann auch die Frage, warum der übergrosse Nachbar Saudi-Arabien sich überhaupt in diesen internen Konflikt einmischt, da allzu offensichtlich von dem militärischen "Habenichts" Jemen keinerlei Gefahr für das Territorium des Wahhabiten-Reichs droht - egal, wie der Konflikt ohne Einmischung ausgegangen wäre. Und noch drängender die Frage, warum die saudischen Kräfte oft zivile Ziele wie Krankenhäuser und Wohngebiete angreifen und dabei mittlerweile geächtete Mittel wie Streumunition verwenden.



C) Hier im rund 5'000 km von Jemen entfernten Deutschland freilich ist von dieser grimmigen Wirklichkeit medial praktisch nichts zu erfahren: Keine "Brennpunkte" im TV, keine Bilder von medizinischen Notfall-Crews im Aufbruch ins Krisengebiet, keine Verladung von Wasseraufbereitungs-Anlagen in eilig gemietete Transportflugzeuge. Und folgerichtig auch keine grossformatig in die Kameras gehobenen Schilder mit Spendenkonten.

Es scheint, dass dieser Krieg und die begleitende medizinische Katastrophe fast total vergessen sind. Und zwar schon so lang, dass die Formel vom "vergessenen Krieg" selbst schon in die diesbezüglichen Wikipedia-Artikel Einzug gehalten hat.

Während ich dies schreibe, widmet die Tagesschau einen Grossteil der Sendezeit dem Fipronil-Eierskandal - sicher eine unappetitliche Sache, aber verglichen mit 200'000 Cholera-Erkrankten doch eher unter "ferner liefen" einzuordnen.

Woher kommt dieses fast schon "dröhnende Schweigen" unserer Haupt-Medien zu Vorgängen, die, würden sie an anderen Orten mit anderen Konfliktparteien stattfinden, sicher geballte journalistische Aufmerksamkeit finden würden?

Liegt es vielleicht nur an mangelnden technischen Möglichkeiten? Gewiss hat die ARD ihr "weltumspannendes Korrespondentennetz", dessen sie sich so gerne rühmt, in letzter Zeit merklich ausgedünnt. Aber die Tatsache, dass man z.B. in Syrien keinen Korrespondenten vor Ort hatte, hat die ARD nicht davon abgehalten, manchmal täglich einen im 600 km entfernten Kairo stationierten Journalisten seine "Einschätzungen" zur Lage in jenem Bürgerkriegsland abgeben zu lassen.

Freilich muss man den Saudis zubilligen, die Techniken des "limited war" *2 konsequent angewandt zu haben. Statt einer grossangelegten Invasion durch eigene Bodentruppen die gezielte Unterstützung der "richtigen" Milizen durch Waffenlieferungen und dazu Lufteinsätze der eigenen Luftwaffe (die übrigens schon rund 50% mehr Kampfflugzeuge besitzt als z.B. die britische RAF).

Und, vielleicht noch wichtiger: Man hat erkannt, dass moderne Medienkonzerne Bilder brauchen wie die Luft zum Atmen. Und wo keine Bilder, da keine Reportage - entsprechend wird konsequent die Entstehung von Bildern verhindert. Während die US-Amerikaner bei "ihren" Kriegen wenigstens noch "embedded journalists" zensiertes Bildmaterial produzieren lassen, unterbinden die Saudis so eine Art Pressebegleitung von vornherein. *3





D) Aber man kann natürlich auch ohne Aufforderung durch TV-Prominenz für Hilfe im Jemen spenden, und ich ermuntere alle Leser, einer Organisation Ihrer Wahl eine Spende zukommen zu lassen. Gerade Cholera ist eine Krankheit, an der im 21. Jahrhundert keiner mehr sterben müsste. Mit einem Minimum an medizischer und hygienischer Unterstützung liessen sich fast alle Betroffenen heilen.

Hier nur stellvertretend für viele Organisationen, die trotz der schwierigen Lage im Jemen zu Helfen versuchen, die Infoseiten von Ärzte ohne Grenzen e.V. und Oxfam Deutschland e.V. sowie nebenstehend die Spendenkonten:

https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/jemen-epidemie-dringend-mehr-hilfe



https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/laender/jemen


Ärzte ohne Grenzen e.V.
IBAN: DE72 3702 0500 0009 7097 00
BIC: BFSWDE33XXX

Bank für Sozialwirtschaft



Oxfam Deutschland e.V.

IBAN: DE87370205000008090500
BIC: BFSWDE33XXX

Konto: 80 90 500 / BLZ: 370 205 00

Bank für Sozialwirtschaft




E) Eine Nachbemerkung zur Rolle der Medien in diesem Fall:

Mit etwas zeitlichem Abstand lässt sich erkennen, dass mittlerweile recht deutlich manche Konflikte zum passenden Zeitpunkt medial "aufgeblasen" werden (MH-17 in der Ukraine, Aleppo in Syrien, Raketentests in Korea), andere wie Jemen dagegen fast komplett von der Bildfläche verschwinden.

Einen zentralen "Zampano" wie ehemals Dr. Goebbels im Dritten Reich, der per sogenannter "Sprachregelung" die Presse im Lande zur konzertierten Hervorhebung von Thema A und zur Vertuschung von Thema B verpflichten konnte, wird es wohl nicht geben. Aber es gibt eben "Kongruenzen" zwischen den Interessen verschiedener Gruppen, die als "Resultante" durchaus zu einer Art "stillen Sprachregelung" führen könnten.

Viele "deutsche" Unternehmen *4 wollen Ihre Anteilseigner in den Golfstaaten nicht verärgern und werden wiederum den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen, die von ihren Anzeigenaufträgen abhängig sind, den guten Rat geben, von manchen Themen lieber die Finger zu lassen.

Viele Journalisten bilden ohnehin eine Art Tross, der die Kanzlerin oder die Minister bei ihren Reisen gerne begleitet und für das Privileg dieses "Zugangs zur Macht" Kritik im Zweifelsfall unterlässt.


Die US-Regierungen wiederum lassen gerne ihren Einfluss spielen, um ihren "treuesten Verbündeten am Golf" vor allzu kritischer journalistischer Beobachtung zu schützen, und mittels Institutionen wie der "Atlantik-Brücke" sind sie ja bestens mit den einflussreichsten deutschen Journalisten "vernetzt" (nur als Beispiel sei Josef Joffe von der ZEIT genannt).

Die Bundesregierungen waren in den letzten Jahren freudig dabei, wenn es darum ging, milliardenschwere Rüstungsgeschäfte mit Saudi-Arabien und anderen Golf-Dynastien abzuschliesssen. Diese Art von "Wirtschaftsförderung" war alllemal wichtiger als menschenrechtliche Bedenken. Die beim letzten Kanzlerin-Besuch in Riad vereinbarten "Ausbildungsmissionen" fügen sich nahtlos in dieses Bild ein.

Und die Resultante aller dieser Interessenstränge scheint mir genau jener Mantel des Schweigens zu sein, der in den Mainstream-Medien über den Jemen-Krieg gebreitet wird.

Larry Kings Rat "question more!" sollte gerade dann, wenn die publizierte Meinung von verdächtiger Einheitlichkeit ist (oder wie in diesem Falle von verdächtig einheitlichem Schweigen), die erste Leitschnur im Umgang mit den etablierten Medien sein.



(August 2017)



*1 Diese und die folgenden Zahlen stammen in diesem Falle aus den betreffenden Wikipedia-Artikeln. Dass die in Wikipedia verbreiteten Zahlen oft mit Vorsicht zu behandeln sind, ist mir wohlbekannt, aber in diesem Text geht es ohnehin nur um Grössenordnungen, nicht um absolute Werte.

*2 Zum "limited war" auch hier:

Vom "limited war concept"...

*3 Lange vorbei die Zeiten (Vietnam 1973), als ein Peter Scholl-Latour sich wenig um Mahnungen und Verbote scherte, seine Filmcrew in ein Auto setzte und sich direkt ins umkämpfte Gebiet um Saigon begab. Das Resultat war eine kleine Sensation, indem sie eines der ersten Interviews eines Vietcong-Gruppenführers auf die Bildschirme brachte.

*4 Das Parädikat "deutsch" habe ich hier in Anführungszeichen gesetzt, weil bei den ganz grossen Unternehmen die nationale Zuordnung eher in die Irre führt. Die Deutsche Bank etwa führt zwar "Deutsch" sogar im Namen, wird aber heute (wie man unter anderem einem langen Artikel in der Zeit entnehmen konnte) nach angloamerikanischen Prinzipien geführt. Auch die Entscheider selbst sind oft Briten (John Cryan) oder Amerikaner. Entsprechend werden die Vorstandssitzungen in Frankfurt schon seit Jahren komplett in Englisch geführt.