Vom "Limited War Concept" zum Perpetual War -

und die Rolle des US-Exzeptionalismus



1. Vietnam


>The greatest contribution Vietnam is making … is developing an ability in the United States to fight a limited war, to go to war without arousing the public ire.<

>… almost a necessity in our history, because this is the kind of war we'll likely be facing for the next fifty years.<

(> Den grössten Beitrag leistet Vietnam dadurch, … dass es in den Vereinigten Staaten die Fähigkeit hervorbringt, einen begrenzten Krieg zu führen, Krieg zu führen ohne den Zorn der Bevölkerung zu erregen<

> … nahezu eine Notwendigkeit für unsere Geschichte, weil dies die Art von Kriegen sein wird, der wir in den nächsten 50 Jahren begegnen werden.>)

Robert S. McNamara, während seiner Amtszeit als "Secretary of Defense" 1961-1968 *1



Der legendäre Verteidigungsminister McNamara, dem Freund und und Feind vor allem eines zubilligten, nämlich sehr intelligent zu sein, scheint hier geradezu unheimlich hellsichtig gewesen zu sein. Denn wenn man die Geschichte der "kriegerischen Konflikte", in die die USA seit Vietnam verwickelt waren, Revue passieren lässt, so muss man zugeben, dass - bis auf vielleicht eine Ausnahme - alle diese Kriege eben "limited", begrenzt, waren.



Dem steht nicht entgegen, dass der Vietnam-Krieg selbst nicht ganz in dieses Konzept von "limited" passen will - wer sich unter den Älteren noch an die bis dato beispiellosen "carpet bombings", an die Entlaubungsaktionen, den hemmungslosen Einsatz von Napalm und die mit verbissener Härte durchgeführten "search and destroy"-Einsätze erinnert, mag eigentlich nicht an "begrenzt" glauben. Aber Vietnam war ja eben noch Teil einer "Lernkurve", denn während man die Anzahl der eingesetzten US-Soldaten sehr wohl begrenzte (die in verschiedenen Schritten schliesslich auf rund 500'000 begrenzte Truppenzahl war natürlich trotzdem sehr hoch), hätte z.B. die Air-Force-Führung die Methoden des zweiten Weltkriegs gerne noch bis zum ultimativen Sieg fortgeführt.

Ebenfalls Teil der "Lernkurve" war der Umgang mit der Presse. Hatte man in der Militärführung am Anfang noch geglaubt, die heimatliche Presse würde wie im 2. Weltkrieg quasi automatisch jeden Einsatz der US-Army begrüssen, so musste man mit zunehmender Dauer des Krieges feststellen, dass es eben auch immer mehr Kritiker in den Reihen des US-Pressecorps gab.

Den vorläufigen Höhepunkt dieses Lernerfolgs konnte man im Irak-Krieg 2003 besichtigen: Hier wurden die "embedded journalists" freiwillig oder unfreiwillig zu Sprechpuppen der Militärführung.



2. "Limited War"


Was aber bedeutet das "limited war concept"? Barbara Tuchman schrieb zurecht: "Begrenzter Krieg ist nicht netter oder barmherziger oder gerechter als unbegrenzter Krieg … er tötet mit derselben Endgültigkeit" *2.

Nach den Propagandisten dieses Konzepts geht es bei dieser Art Krieg nicht um Eroberung, sondern Erzwingung von Zielen. Die eingesetzte Gewalt sollte wohlkalkuliert so dosiert sein, dass der Gegner nach ebenso rationaler Überlegung zu dem Schluss kommt, dass er die den "Schmerz" verursachenden Handlungen besser aufgeben sollte. Im Idealfall würden Kriege so zu einer Art "Nachrichtenaustausch", freilich mit Kugeln, Granaten und Bomben als "Nachrichtenträgern".

Ins Auge springt, dass man für das Führen eines begrenzten Krieges überhaupt in der Lage sein muss, den Krieg nur mit einem Teil der theoretisch verfügbaren oder mobilisierbaren Kräfte zu führen - also eigentlich nur aus einer Position deutlich überlegener Stärke heraus. Ebenso wichtig: Wer die Reaktion des Gegners falsch einschätzt oder ignoriert, kann mit diesem Konzept das Gegenteil des Gewünschten erreichen.


So wurde der frühere ägyptische Präsident Nasser 1959 von den "Bruderstaaten" Syrien und Jordanien dazu aufgefordert, an einem "begrenzten" Krieg gegen Israel teilzunehmen. Er entgegnete, dass er unter einer Bedingung daran teilnehmen würde: Nämlich dass seine arabischen Partner eine verbindliche Zusage von David ben Gurion (dem damaligen israelischen Premier) vorweisen würden, dass auch Israel den Krieg nur "begrenzt" führen werde *3. Hier war Nasser eben realistischer als seine Allierten.


Hier liegt auch der Grund dafür, dass der Vietnamkrieg - obwohl von den Hohepriestern der Rationalität im Pentagon mit McNamara an der Spitze vielleicht wirklich als "Nachrichtenaustausch" mit begrenzten militärischen Mitteln geplant - von den Nordvietnamesen nun überhaupt nicht als "begrenzt" aufgefasst wurde. Für diese "kleinwüchsigen Asiaten in schwarzen Pyjamas" ging es um viel mehr: um die lange versprochene Unabhängigkeit, um nationale Einheit, für einige sicher auch um den Traum von einer kommunistischen Gesellschaft. Und je länger der Krieg dauerte, um so mehr ging es auch um Widerstand gegen die Zerstörung der Wohnungen und Fabriken, um Rache für getötete oder verstümmelte Verwandte (die Schätzungen der Anzahl getöteter vietnamesischer Zivilisten gehen weit auseinander, als Mindestzahl gelten 1,2 Millionen Menschen).



3. "public ire"

Einen Vorteil scheint der "limited war" aber doch offensichtlich zu haben: Es gibt weniger Opfer als in einem "all-out-war". Wobei es natürlich für die Proponenten dieser Art Kriegführung vor allem darum geht, die eigenen Verluste gering zu halten. Den Drohnenkrieg kann man in gewisser Weise als Höchstform des begrenzten Krieges bezeichnen, und wenn ein Drohnenpilot mit einem Raketenschlag 2, 20 oder 200 "Gegner vernichtet", während er dabei in der Sicherheit seines klimatisierten Kommando-Containers irgendwo in den USA oder Europa sitzt, so ist der "Eigenblut-Verlust" auf das Minimum reduziert.

Wieso ist aber die Beschränkung der Verlustzahlen so wichtig? McNamara hat uns die Begründung schon geliefert: "...without arousing the public ire" - "… ohne den Zorn der Bevölkerung zu erregen".

Denn für die öffentliche Wahrnehmung sind solche Zahlen sehr wichtig. Würden die jährlichen Verkehrstoten (in den USA rund 30'000, in der BRD rund 3'000) in ein oder zwei Grossereignissen konzentriert "anfallen", so würden alle Medien sofort die umfassendsten und schärfsten Massnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit fordern. So aber gehen die täglichen Meldungen über 1 oder 2 Tote in den Lokalseiten der regionalen Blätter unter.

Ebenso blieben die im 13-jährigen (!) Bundeswehreinsatz in Afghanistan offiziell gemeldeten 54 toten Bundeswehrsoldaten im Wesentlichen unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.


Der Vergleich mit Vietnam zeigt wieder, wie sehr damals die Begrenzung aus dem Ruder gelaufen war: mit rund 50'000 getöteten GI's war zwar "nur" rund jeder 100. Haushalt in den USA direkt betroffen, am Ende kannte aber doch fast jeder einen Menschen oder eine Familie, die einen "Gefallenen" zu beklagen hatten. Das machte den Krieg notwendigerweise zu einem Objekt von "public ire".



4. "Interventionen"



Nach Vietnam haben die USA bei einer Vielzahl von Konflikten militärisch eingegriffen, unter anderem in:

Grenada 1983

Panama 1989

Irak-Kuwait 1990

Somalia 1992

Haiti 1994

Afghanistan 2001

Irak 2003

Lybien 2011

Syrien 2014


Fallen alle diese Kriege unter das "limited war concept"?

Bei einigen Ländern muss man zugeben, dass die US-Einsätze sozusagen zwangsläufig begrenzt waren - einfach weil das jeweilige Land zu klein war, um überhaupt einen Grosseinsatz zu rechtfertigen (z.B. Grenada, Panama und Haiti).

Bei den anderen kann man m.E. das "limited war concept" sehr deutlich erkennen - mit einer Ausnahme: Der Irak-Krieg 1990 unter dem ersten Präsidenten Bush war auch in der Öffentlichkeit ganz bewusst als der Aufmarsch (und schliesslich Einsatz) einer überlegenen Militärmacht dargestellt worden. Wochenlang hielten erst die Vorbereitungen zur Zusammenführung grösster Militäreinheiten ("Desert Shield") und schliesslich der Einsatz derselben ("Desert Storm") die Weltöffentlichkeit in Atem. Das Ganze erhielt sogar die Ehre, in der Presse als eine neue Doktrin bezeichnet zu werden: "Powell-Doktrin" (nach dem damaligen US-Generalstabschef).

Der Krieg endete, nachdem das (durchaus begrenzte) Kriegsziel der Befreiung Kuwaits erreicht worden war, überaus konventionell:

Es gab militärische Waffenstillstandsvereinbarungen, die zu den notwendigen Regeln bezüglich Grenzlinien, Entwaffnung und Behandlung der Kriegsgefangenen führten *4.


Lybien (2011) und Syrien (ab 2014) sind schon dadurch als "limited wars" einzuordnen, als hier "nur" die Luftwaffe zum Einsatz kam bzw. kommt. Wobei das Pentagon Obamas Versprechen "no boots on the ground in Syria" schon etwas relativieren musste, weil die Tätigkeit von US-"Spezialtruppen" in Syrien durch den Tod eines amerikanischen Soldaten eben dort offenbar wurde.

Afghanistan 2001 und Irak 2003 waren sozusagen die Ecksteine in dem von US-Präsident George W. Bush proklamierten "Krieg gegen den Terror". Nach Ansicht einiger Beobachter war dabei der Afghanistan-Krieg etwas improvisiert, da die Spur der Attentatsplaner vom 11.September 2001 eindeutig auf Osama bin Laden und seine Al-Queida hinwies, die von der damaligen Taliban-Regierung gedeckt wurden. Wenn das Ziel die Ergreifung und/oder "Vernichtung" der Al-Queida-Kämpfer war, so wurde es offensichtlich nur sehr unvollständig erreicht. Allerdings hatte man "en-passant" auch die Taliban-Regierung gestürzt, ohne aber irgendeine plausible alternative Regierungs-Struktur aufbauen zu können (oder zu wollen ?). Nach 12 langen Jahren wurden zwar die westlichen Militäreinsätze in Afghanistan für beendet erklärt, aber die Sicherheitslage hat sich kaum verbessert, und die Zentralregierung bleibt schwach und ohne permanente westliche Militärhilfe (Rüstung, "Ausbildungseinsätze") nicht überlebensfähig.



5. Irak


In den Irak zogen die US-Militärs im Jahre 2003 wieder mit einer eindrucksvollen, aber trotzdem auf ein Drittel der Stärke von 1990 reduzierten Streitmacht ein. Bei der Bombardierung allerdings wurde nicht gespart, diese sollte dann auch für den Grossteil der über 100'000 getöteten irakischen Zivilisten verantwortlich sein. Der Sturz Saddam Husseins, von G.W. Bush halb offiziell zum Kriegsziel erklärt, wurde zwar erreicht, aber wiederum ohne eine Regierungs-Alternative vorzuhalten oder aufbauen zu können. Auffällig war, wie sehr sich die Bush-Regierung dagegen sträubte, die Mannschaftsstärke zu erhöhen - selbst als der sogenannte Falluja-Aufstand 2004 und die erbitterten Kämpfe dort jeglichen Anschein von "Beendigung der Hauptkampfhandlungen" beseitigt hatten. Neu war auch gewesen, dass neben regulären Army-Einheiten auch Truppen der Nationalgarde in grossem Umfange eingesetzt wurden *5. Im Unterschied etwa zu Vietnam wurden die Soldaten auch zu mehrfachen "tours of duty" abkommandiert.


Die Erhöhung der US-Truppenstärke von rund 150'000 auf 170'000 im Jahre 2007 (der sogenannte "surge") erschien dann auch als ein von den Militärs der zivilen Pentagon-Führung (Rumsfeld, Bush) abgetrotztes Zugeständnis eigentlich schon lange benötigter Truppen. Dass die Truppenzahl nie das Niveau erreichte, dass man üblicherweise für die Besetzung eines so grossen und bevölkerungsreichen Landes bereitstellen muss, zeigte sich schon unmittelbar nach der Einnahme Bagdads: Waffen- und Munitionsdepots der besiegten Armee blieben tagelang unbewacht, zentrale öffentliche Einrichtungen wurden nicht geschützt und wie z.B. das nationale Antikenmuseum praktisch zur Plünderung freigegeben. Der kurz danach eingesetzte US-"Prokonsul" Bremer schuf, wie man heute weiss, mit seinen ersten Erlassen (die die ersatzlose Auflösung von Armee und Baath-Partei dekretierten), die Grundlage für Al-Queida in Irak, IS und ähnliche terroristische Gruppen.


Der Unterschied zum Irak-Krieg von 1990 springt ins Auge: Damals Einsatz grösster Truppenkontingente, um ein wohldefiniertes Ziel (die Befreiung Kuwaits) zu erreichen, 13 Jahre später eine bewusst knapp bemessene Eingreiftruppe, die - nachdem sich die vorgeschobenen Kriegsgründe und Ziele als Lügen herausgestellt hatten - mit wechselnden Strategien die unmögliche Aufgabe des "Kriegs gegen den Terror" bewältigen sollte. Und folgerichtig war auch die Beendigung des Krieges 1990 mit den üblichen Prozederen möglich und erfolgreich, während man unter G.W.Busch (und Obama !) eigentlich kein Ende fand. Denn auch nach dem "offiziellen" Ende wird weiter Krieg geführt (gegen IS und andere), und die irakische Armee ist ebenso zu fast 100% von US-Gerät und Unterstützung abhängig wie ehedem die südvietnamesische Armee. Von den angeblich nur noch zur "Ausbildung" im Land verbliebenen US-Einheiten ganz zu schweigen.



6. Afghanistan



Auch der Afghanistan-Krieg 2001 ist klassisch-militärisch betrachtet ein Rätsel. General von Clausewitz, dessen Werke wohl auch heute noch an den bekannten Militärakademien von Sandhurst, St. Cyr und West Point studiert werden, wäre aus dem Staunen nicht herausgekommen.


Da besetzen Truppen von 5 grossen Nationen *6 dutzende Militärstützpunkte, massieren Ausrüstung und Material, führen Tausende von Luftangriffen aus - und als Ergebnis ist die vielbeschworenen Sicherheitslage 13 Jahre später kaum besser als zuvor. Vermutlich hätte Clausewitz hier keine Strategie erkennen können - keinen Rückzug auf ein beherrsch- und kontrollierbares Gebiet, keine Abriegelung der Landesgrenzen (trotz der oft beklagten Infiltration über die pakistanische Grenze), keine überzeugende Konzeption für militärische Offensiven. Stattdessen das Benutzen der eigenen Truppen als Köder, indem man sie auf Patrollienfahrten schickt in der Erwartung feindlicher Hinterhalte - um die Feinde dann mit nachsetzenden Truppen und Luftangriffen zu "eliminieren".

Grossen Raum nimmt bei Clausewitz die Konzentration auf entscheidende Manöver und der Wille zur raschestmöglichen Umsetzung der militärischen Ziele ein - ein unnötig verlängerter, gar zum Abnutzungskrieg mutierender Feldzug war ihm aus zahlreichen Gründen zuwider. Hier finden wir nun ein Muster für den Begriff Abnutzungskrieg vor - und noch dazu einen sinnlosen, da von Frieden ja auch nach dem "offiziellen" Kriegsende 2013/2014 keine Rede sein kann *7 . Die deutsche Diskussion um die Einstufung von Afghanistan als "sicheres Herkunftsland" bei Asylanträgen wird den Betroffenen wohl wie Hohn vorkommen.




7. Syrien



Der Krieg gegen den IS in Syrien ist, mit den Augen eines Clausewitz' oder Montgomerys oder MacArthurs gesehen, ebenfalls rätselhaft. Ihre Gegnerschaft zum IS wiederholt öffentlich gemacht haben nicht nur die USA und Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, sondern auch die näheren und ferneren Nachbarn wie Irak, Iran, Türkei und Saudi-Arabien. Und natürlich bekämpft die syrische Regierung den IS, seit rund 1 Jahr dabei auch militärisch von Russland unterstützt. Angesichts einer so breiten Gegnerschaft hätte sich doch eine anfangs auf wenige Tausend Kämpfer geschätzte Gruppe von irrwitzig gewalttätigen Fanatikern nie halten können, geschweige denn grosse Teile Syriens (und Iraks) unter ihre Kontrolle bringen können. Zumal die drei erstgenannten Länder ja schon längere Zeit Lufteinsätze gegen "IS-Stellungen" fliegen.

In diesen Tagen (17.08.2016) erfahren wir nun sozusagen offiziell vom deutschen Innenministerium, dass mindestens die Türkei den IS nicht wie behauptet bekämpft, sondern im Gegenteil unterstützt hat. Und auch im Falle der USA und Saudi-Arabiens ist es ein offenenes Geheimnis, dass man den IS jahrelang mindestens indirekt unterstützt hat - als Instrument zum Sturz der Assad-Regierung.




8. An der Heimatfront



So verschiedenartig die US-Kriege bzw. "Militäreinsätze" seit 1980 auch sein mögen, so haben sie doch gemeinsam, dass die politische Führung grosse Anstrengungen unternommen hat, den unmittelbaren Einfluss auf die US-Bevölkerung zu begrenzen. Zwar waren Afghanistan und Irak nicht unter der medialen Wahrnehmungsschwelle zu halten, aber die direkt betroffenen Familien (die Gefallene oder Verwundete zu beklagen hatten) waren bei weiten nicht so zahlreich wie im Falle von Vietnam oder Korea.

Ein wichtiges Element war auch die Abschaffung der Wehrpflicht, denn ein Berufssoldat darf die gesetzten Ziele nicht in Frage stellen. Klagt er öffentlich über Umstände seines Einsatzes oder seiner Versorgung nach Verabschiedung aus dem Dienst, so kann er auf nicht viel Sympathie hoffen - schliesslich hat er "freiwillig" einen Vertrag unterschrieben und wurde bezahlt.

Zur Erklärung, warum die USA seit 1980 immer stärker zu einem militärischen "Interventionismus" neigen, fehlt aber noch ein wichtiges Element. Dieses wird mit dem sperrigen Wort "US-Exzeptionalismus" bezeichnet.



9. US-Exzeptionalismus


Unter dem Stichwort "US-Exzeptionalismus" finden sich lange Einträge in Wikipedia und anderen Lexika, auch vielerlei Bücher sind darüber geschrieben worden. Ein praktisches Beispiel ist der aktuelle Wahlkampfslogan von Donald Trump: "Make America great again!" - nicht von ungefähr von Ronald Reagan abgekupfert, der schon 1980 rief: "Let's make America great again!". Beide Male die Unterstellung, dass der (demokratische) Amtsinhaber (damals Carter, heute Obama) die ehemalige Grösse verspielt habe, und beide Male die Verheissung, dass man selbst die "Grösse" wiederherstellen werde. Denn es gibt eine permananent am kollektiven Selbstwertgefühl der US-Amerikaner nagende Frage, und die lautet: "Is the US still the greatest contry on earth?" - "Sind wir noch die grösste Nation der Erde?"

Interessant dabei ist, dass die Frage ja - quer über alle Parteigrenzen hinweg - die feste Überzeugung ausdrückt, dass die USA (irgendwann einmal) eben das "grösste Land" waren, und auch mitschwingend die Ansicht, dass sie diesen Titel auch (naturgemäss?) verdient haben.

Es gibt da einen Youtube-Ausschnitt aus einem Hollywood-Film, in welchem Jeff Daniels einen Journalisten darstellt, der auf einer Hochschul-Veranstaltung eben diese Frage vorgelegt bekommt und mit Fakten darlegt, warum die USA es nicht mehr seien (etwa wegen des weltweit höchsten Anteils an in Gefängnissen eingesperrten Personen): https://www.youtube.com/watch?v=3hvrCNkL9RM

Aber auch diese als klassischer "Liberaler" dargestellte Figur geht wie selbstverständlich davon aus, dass die USA "das grösste Land der Erde" waren und sein müssten.


Wenn es nur darum ginge, anzuerkennen, das in den USA die besten "fluffy pancakes" gereicht werden, während die Franzosen den "besten Camembert" produzieren und die Russen das "beste Borschtsch", könnte man ja mit diesen kleinen nationalen Überheblichkeiten gut auskommen.

Aber das exzeptionelle am US-Exzeptionalismus ist, dass hier über Jahrzehnte ein Gedankengerüst errichtet wurde, die den USA die sozusagen gottgewollte Führung nicht nur des amerikanischen Doppelkontinents, sondern der ganzen Welt zuspricht.



10. Deutscher Exzeptionalismus



Als Deutsche können wir uns diesbezüglich an die im deutschen Kaiserreich vor dem ersten Weltkrieg aufkommende Stimmung erinnern, welche das Reich als geopolitisch zu kurz gekommen ansah - während die Briten den halben Erdball mit dem Union Jack überzogen hatten und die Franzosen immerhin grosse Teile mit der Trikolore, war die Reichsfahne nur auf ein paar unbedeutenden Fleckchen zu sehen (z.B. Deutsch-Ostafrika). Es folgte eine Kampagne, dass Deutschland aufgrund seiner fleissigen Bevölkerung, der Qualität seiner exportierten Waren ("Made in Germany"), aber auch und gerade als Volk der "Dichter und Denker" einen Anspruch auf mehr Einflusss und Macht habe. Die Sache mündete im ersten Weltkrieg mit dem bekannten Ergebnis.

Dieser dann verlorene Krieg, das als ungerecht angesehene Versailler Vertragsregime und nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise trug dann eine Bewegung an die Macht, die den Gedanken der "naturgesetzlichen" deutschen Vorrangstellung zur Ideologie vom Herrenmenschen steigerte. Damit war der Weg zum nächsten Weltkrieg, aber auch zu den grausamen Massenmorden eigentlich schon bereitet.



11. "Captain America"


Sicher hält sich der durchschnittliche US-Amerikaner nicht für den Vertreter einer "Herrenrasse" - das würde angesichts der vielrassigen oder multi-ethnischen Bevölkerung ja auch keinen Sinn machen. Aber eine feste Überzeugung, dass die USA das Recht (vielleicht sogar die Pflicht) haben, überall auf der Welt ihre "Interessen" notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen - die kann man wohl als gegeben sehen.

Der Sender Russia-Today hat anlässlich der Weltkriegs-Kapitulationsfeiern in Moskau am 9. Mai eine Strassenumfrage unter Passanten in New York durchgeführt und gefragt, wer denn an der Seite der USA gegen die Nazis Krieg geführt habe. Schon die wenigsten der Passanten kamen auf Grossbritannien, noch weniger auf "die Russen" oder "die Sowjets". Manche nannten immerhin "Belgium", andere waren ernsthaft der Ansicht, "the germans" hätten gegen "the nazis" gekämpft. So eine Strassenumfrage ist natürlich nicht repräsentativ. Aber wenn man sich die Plots der Weltkriegs-Filme, die Hollywood in den letzten 50 Jahren produziert hat, so anschaut, wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn der Durchschnittsamerikaner genau so denken würde: "Captain America" hat mit ein paar Brits als "Sidekicks" alle Nazis und Japs allein besiegt.


Es ist natürlich richtig, dass die USA im zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland (und Italien und Japan)  kämpften. Aber ob sie überhaupt in den europäischen Krieg eingegriffen hätten, wenn nicht Grossbritannien unter Churchill erbittert weitergekämpft hätte, ist unter Historikern eine offene Frage. Und dass der Sieg ohne Grossbritannien und ohne Sowjet-Russland so nicht (oder wenigstens nicht so schnell) möglich gewesen wäre, ist eigentlich unbestritten.

Aber dieser geschichtlich schiefe Blick ("We fought the world-war almost alone") geht bei den meisten US-Amerikanern mit der Ansicht einher, dass der Zweite Weltkrieg (oder in Variation auch der Koreakrieg) der "letzte gute Krieg" gewesen sei.

Nun ist das Adjektiv "gut" im Zusammenhang mit dem Wort "Krieg" sicher zweifelhaft, aber trotzdem kann man dieses "Bauchgefühl" nachvollziehen: Im zweiten Weltkrieg kämpften die US-Truppen gegen Regime, die man ohne Lupe als diktatorisch oder autokratisch erkennen konnte und die ihre Nachbarländer mit Krieg und Vernichtung überzogen hatten. Mit dieser moralischen Eindeutigkeit war es spätestens in Vietnam vorbei.

Seitdem wird tatsächlich im grossen und ganzen McNamaras "limited war concept" befolgt, meist von entsprechender Propaganda und nicht selten auch handfesten Lügen (der Tonkin-Bay-Zwischenfall in Vietnam, das "yellowcake" und die Giftgas-Legende im Irak) begleitet.



12. "twisting arms"


Auf die Genese dieses in den USA als so selbstverständlich angesehenen Exzeptionalismus will ich hier nicht eingehen. Feststellen kann man, dass er in der US-Politik einen eindeutigen Zweck hat: Er soll der US-Bevölkerung suggerieren, dass man nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht habe, weltweit einzugreifen, wenn "US-Interessen in Gefahr" seien.

In einem TV-Interview im Februar 2015 (momentan unter www.vox.com/a/barack-obama-interview-vox-conversation abrufbar) fand Barack Obama eine bemerkenswerte Formel für die Aussenpolitik der USA: "We occasionally have to twist the arms of other nations in order to make them do what we need them to do." Charakteristisch für Obama ist die Wahl der verniedlichenden Bezeichnung "Armdrücken" ("twist the arms") für US-Militäraktionen ebenso wie die implizite Feststellung der sozusagen Naturnotwendigkeit ("what we need them to do") dieses Handelns. Und gerade die Obama-Regierung hat ja z.B. den Drohnenkrieg weit ausgedehnter betrieben als die Bush-Administration. Wie schon gesagt: In gewisser Hinsicht stellt diese Methode die bislang höchste erreichte Form des "limited war" dar.


Nun wäre es naiv anzunehmen, dass nur mit ein bisschen gutem Willen Kriegführung für immer abgeschaft werden könnte.

Sebastian Haffner hat darauf hingewiesen, dass moderne Gesellschaften, die das Gewaltmonopol dem Staat zugesprochen haben, dann auch damit rechnen müssen, dass die Staaten untereinander im Konfliktfalle u.U. Gewalt anwenden. Und dass die einzig logische Umsetzung des Wunsches "nie wieder Krieg" die Errichtung eines allumfassenden Welt-Superstaates wäre. Leider wäre aber der einzig gangbare Weg, diese Weltregierung zu errichten, ein Welt-Eroberungskrieg - ein "war to end all wars" - der beim heutigen Stand der Technik nur als umfassendes Armageddon vorgestellt werden kann.

Ist dann - wenn Kriege in logischer Konsequenz nie total abzuschaffen sind - das "limited war concept" vielleicht wirklich eine "sanfte" Alternative zum "grossen" Krieg?



13. limited war = executive war


Lassen wir noch einmal Barbara Tuchman zu Wort kommen: "Begrenzter Krieg ist grundsätzlich ein Krieg, den die Exekutive allein beschliesst, und 'ohne den Zorn der Bevölkerung zu erregen' - was im Effekt bedeutet ohne öffentliche Aufmerksamkeit - heisst sich von der Gemeinschaft mit dem Volke loszusagen, was den Abschied vom Prinzip repräsentativer Regierung bedeutet." *8

Der Passus "...von der Gemeinschaft mit dem Volke loszusagen" ("meaning parting company with the people") ist interessant. Denn tatsächlich ist ein solches "sich-los-sagen" sowohl in den USA als auch in Europa in vollem Gange. Es hat sich eine politisch-wirtschaftliche "Eliten"-Schicht gebildet, die es geradezu als ihre Pflicht ansieht, sich nicht mit dem Volk 'gemein' zu machen. Zwar ist diese Schicht nicht wie ehedem über Adelstitel oder eindeutige Standeskennzeichen klar abgegrenzt, sondern kennt auch einen begrenzten Zufluss aus anderen Schichten. Trotzdem - und das belegen viele soziologische Studien - reproduziert sich diese Schicht zunehmend aus den eigenen Reihen. Und innerhalb dieser "Elite" bildet sich relativ schnell ein Konsens darüber aus, was denn nun ein wichtiges "nationales" oder "europäisches" oder "weltgemeinschaftliches" Ziel sei. Wenn das Ziel mit militärischen Mitteln erreichbar scheint und man mittels der "limited war"-Strategie hoffen darf, die Sache unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit ("des Volkes") zu halten, so wird dieses Mittel eingesetzt.


Das bedeutet aber auch, dass auf diese Art Kriege viel leichtfertiger begonnen werden, und gleichzeitig, dass sie viel seltener zu einer wirklichen militärischen Entscheidung führen. Genau das sahen und sehen wir ja in Afghanistan, Irak, Lybien und Syrien *9. Peter Scholl-Latour hat es mit dem Titel seines letzten Buches den "Fluch der bösen Tat" genannt, denn nach all diesen Einsätzen haben wir anstelle funktionierender Staaten nur noch Staatstrümmer und/oder Schulungszentren für fanatische Terroristen.

Deshalb darf man auch die Prämisse, dass "limited war" weniger Todesopfer fordern würde, getrost anzweifeln.

Gleichzeitig erodiert diese Art der Kriegsführung auch die demokratischen Prozesse im eigenen Land - natürlich auch, weil Kriegführung immer Geheimhaltung, Verschleierung und Täuschung bedeutet.





14. perpetual war


Als ich über diesen Text nachdachte, habe ich mich gefragt, ob ich denn aus dem Stand (ohne in Wikipedia oder sonstwo nachzusehen) alle Länder auflisten könnte, in denen die Bundeswehr unter Waffen im Einsatz ist. Und zu meiner Verblüffung muss ich gestehen: Ich kann es nicht, ich habe schlicht den Überblick verloren. Und dem typischen US-Bürger wird es vermutlich noch viel weniger gelingen , aufzuführen, wo überall US-Truppen eingesetzt sind (selbst wenn wir die "verdeckten" bzw. geheimen Einsätze ausser Acht lassen).


Gerade in diesem Gewöhnungs- oder Verdrängungsprozess steckt eine grosse Gefahr. In meiner Grundgesetz-Ausgabe von 1970 steht es noch in erfrischender Klarheit: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf."

Indem wir den Krieg profanisieren oder zu "Einsätzen" oder "Missionen" schönreden, sorgen wir für den immer häufigeren Waffeneinsatz. Und diese Gewöhnung wird von den Eliten bewusst gefördert. So war ja die Entsendung von zwei Aufklärungs-Tornados nach Afghanistan oder die Stationierung einer 'Patriot'-Einheit in der Türkei militärisch betrachtet ein Witz: Weder benötigten die USA, die die grösste Luftflotte der Welt haben, zwei einzelne zusätzliche Aufklärer, noch braucht das gut ausgerüstete türkische Militär eine einzelne zusätzliche Luftabwehr-Einheit. Es geht darum, die BRD als NATO-Mitglied "einzubinden" oder eben das moralische Odium dieser Militarisierung auch auf die anderen NATO-Länder zu verteilen. Deswegen auch der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, der ausser den Toten von Kunduz nichts "erreicht" hat.


Und so kommen wir mit dem "limited war concept" schlussendlich zum fast immerwährenden Krieg, dem perpetual war.





15. Generäle oder Politiker?


Es gibt einen Satz über den Krieg, der relativ bekannt ist, aber in zwei Varianten existiert: "Krieg ist zu wichtig, um ihn den Generälen zu überlasssen" oder aber "… um ihn den Politikern zu überlassen". Vielleicht ist beides richtig - man darf ihn weder den Generälen noch den Politikern allein überlassen. Insbesondere die Entscheidung, überhaupt militärische Gewalt einzusetzen, muss wieder - wie es schon Eisenhower angemahnt hat - in die verfassungsgemässen Institutionen und Prozesse zurückgeholt werden. Eine Regierung sollte öffentlich darlegen müssen, ob und wieso überhaupt ein Verteidigungsfall vorliegt, und erst die Parlamente könnten, wenn sie überzeugt wurden, offiziell den Krieg erklären.

Ein pauschales out-of-area-Agieren, wie es die NATO für sich reklamiert, steht im klaren Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und der einzigen Legitimation für Krieg, die die UN-Charta vorsieht: den der Verteidigung.



(August 2016, mit Kapiteüberschriften versehen Oktober 2019)




Fussnoten:


*1 Schon Barbara Tuchman hatte 1984, als sie es in ihr Buch "The March of Folly" aufnahm, Schwierigkeiten, dieses Zitat einer schriftlichen Primärquelle zuzuordnen. Robert S. McNamara selber konnte sich dieser Sätze nicht mehr erinnern, bestritt allerdings auch nie, sie gesagt zu haben. Insofern kann ich diese Sätze mit demselben Hinweis zitieren, den Frau Tuchman damals anführte: "It is included here because the ring is authentic and the implications serious, then and now".

*2 "Limited war is not nicer or kinder or more just than all-out war … it kills with the same finality" Tuchman, March of Folly, S. 408

*3 Vergleiche ebenfalls Tuchman, March of Folly, S. 408

*4 Im Anschluss daran hatten die dann von den USA durchgesetzten Flugverbotszonen den erstaunlichen Nebeneffekt, dass die irakischen Kurden im Norden des Iraks ihrem Ziel eines unabhängigen Staates so nahe wie nie kommen sollten. Denn unter dem Militärschutz der USA und ihrer Allierten konnten die Kurden eine Art Proto-Staat rund um Mossul aufbauen - nahezu unbehelligt vom Regime Saddam Husseins, der doch de jure immer noch Herrscher über dieses Gebiet war. Am Ende hatte man sogar eine eigene Währung.

*5 Die US-Nationalgarde war, wie der Name schon nahelegt, eigentlich als Heimat-Schutztruppe für die kontinentalen USA angelegt. Für den Einsatz jenseits der Landesgrenzen mussten diverse Gesetze geändert werden.

*6 Wenn man alle "ISAF"-Beteiligten hinzurechnet, sogar 52 Nationen - wobei der Anteil etwa Albaniens vermutlich nicht so sehr hoch war.

*7 Natürlich gibt es auch sozusagen "technische" Gründe, die militärische Erfolge schwer erreichbar machten. Die lange, gebirgige Grenze zu Pakistan etwa bereitete schon der britischen Armee des 19. Jahrhunderts Kopfzerbrechen. Andererseits sollte doch einer Militärkoalition, die über absolute Lufthoheit, dazu hochauflösende Luft- und Satellitenaufklärung verfügt, auch die Abriegelung einer solchen Grenze möglich sein.

*8 Barbara Tuchman, a.a.O., Seite 408: "Limited war is basically a war decided on by the executive, and 'without arousing the public ire' - meaning the public notice - means parting company with the people, which is to say discarding the principle of representative government."

*9 Sicherlich wäre z.B. das Schicksal Afghanistans auch ohne die direkte US-Intervention 2001 sehr unsicher gewesen. Aber gerade die Taliban und al-Queida waren ja das Kind der US-Unterstützung der "Mudschahedin", die die Sowjet-Truppen nach 1980 aus dem Land treiben sollten.




www.truthorconsequences.de