Über Europa und die EU - Kritik und Erwiderung


Erfreulicherweise habe ich eine ausführliche eMail mit Kritik an meinen Texten zum "Brexit" (Farewell EU - Welcome Europe!) und zur vergessenen Grösse: Grösse erhalten. Im Folgenden habe ich den wichtigsten Thesen dieses EU-Anhängers (in dieser Schriftart) meine Erwiderung hinzugefügt:


A Die politische Gesellschaft, in der sich Deine Beiträge oft befinden, ist zugegebenermassen kein Sach(gegen)argument als solches. Es gibt (mir) aber doch zu denken, dass Deine Freude (hier: über das weniger Europa / Überstaatlichkeit) und viele der sie unterstützenden Argumente daheim von der AfD, in Europa von Leuten wie Mdme LePen und Boris Johnson, über’n Teich von Mr. Trump geteilt wird.


Da ich mich mit den in den beiden Texten geäusserten Gedanken in gefährliche Nähe zu den "Populisten" und Rechtsradikalen begeben würde, so dieser Einwand, werden auch die Argumente selbst zweifelhaft sein.

Meine erste Antwort stammt - wieder einmal - von Sebastian Haffner:

"Aber zweimal zwei bleibt vier, auch wenn [z.B] Hitler zweifellos zugestimmt hätte."

Weiter erleben wir, dass es der europäischen Sozialdemokratie in den letzten beiden Jahrzehnten ja gar nicht schnell genug gehen konnte mit dem "über-Bord-werfen" aller sozialpolitischen Positionen der Jahrzehnte davor. Und in gewisser Weise hat eine Partei wie der Front National diese "verlassenen" Positionen aufgegriffen und macht sie zum Teil eines Wahlprogramms, dass für immer mehr Menschen attraktiv wird (trotz oder wegen der Ausländerfeindlichkeit).


Wenn heute die französische "Sozialistische Partei" unter Umgehung des Parlaments ein neoliberales Arbeitsgesetz durchzwingen will, wenn ein SPD-Politiker wie Herr Erler darüber sinniert, welche "Eliten" man in der Ukraine unterstützen könne, wenn man die ganze Hartz-4-Gesetzgebung bedenkt - dann stellt sich dringend die Frage, wer denn da die Seiten gewechselt hat.


Im Übrigen muss man die am Anfang des Satzes stehenden Begriffe zuerst richtig einordnen: die "EU" ist eben nicht gleich Europa, auch wenn das wieder und wieder suggeriert wird, und "überstaatlich" im Sinne von Rotem Kreuz, UNICEF oder ITU *1 ist die EU eben auch nicht, sondern - zumindest in der Auslegung der Brüsseler "Eliten" - ganz klar auf dem Weg zu einem eigenen (Bundes-)Staat.


B Inhaltlich meine ich, Deine Beiträge auf einem Grundaxiom oder -überzeugung fussen zu sehen, das ich zur ersten Hälfte teile: Small is beautiful, big is bad. Das erstreckt sich bei Dir sowohl auf das Ökonomische als auch Politische: „Die  [grossen] Konzerne“ und Überstaatlichkeit sind per se etwas Negatives.


Offensichtlich haben wir es hier mit einem grundsätzlichen Verständnisproblem zu tun. Es geht mir nicht darum, prinzipiell gegen alles "grosse" zu wettern - weder in der Wirtschaft noch bei staatlichen Institutionen. Aber während Staaten demokratisch strukturiert sein können, sind es Wirtschaftsunternehmen in aller Regel nicht. Ausserdem sind Wirtschaftunternehmen im Endeffekt monothematisch - letzten Endes geht es bei allen Unternehmen darum, Profit zu erzielen (was für sich allein noch nicht schlimm sein muss), während moderne Staaten - gleichviel ob demokratisch, autokratisch oder diktatorisch organisiert - stets mehrere Ziele im Blickfeld haben müssen. Die Palette von Zielen wird natürlich von den "Strukturen" und dem "herrschenden Personal" je nach Situation anders bestimmt, aber auch eine Diktatur wie die Saddam Husseins im Irak musste sich gleichzeitig um die Sicherung der Bodenschätze, um Strom- und Wasserversorgung in den Städten, um Krankenhäuser und Schulen etc. kümmern.

Solange Wirtschaftsunternehmen um Grössenordnungen kleiner als die staatlichen Strukturen sind, innerhalb derer sie agieren, ist deren innere undemokratische Struktur von wenig Belang. Sobald sie aber grösser und mächtiger werden als die ihnen gegenüberstehenden Staaten, wird es hochproblematisch. Man müsste also entweder die Unternehmen selber demokratisieren (wofür es bislang wenig erfolgreiche Beispiele gibt), oder aber dafür sorgen, dass die Unternehmen nicht so übermächtig werden (wofür es zahlreiche historische Beispiele gibt).


Und der Begriff "Überstaatlichkeit" ist m.E. in Bezug auf die EU ein irreführender Begriff. Denn die EU-"Funktionselite" will ja schon lange einen "echten" EU-Staat - mit eigener Grenzschutztruppe, eigener Jurisdiktion, eigener Asylbehörde und vor allem eigenem Steueraufkommen.


C Spezialisierung, Arbeitsteilung, economies of scale. Globalisierung. Alles auf Kosten der Entfremdung, aber der Trick, der den Grossteil der Menschheit in den letzten 2 Jahrhunderten von schlecht gebildeten, früh dahinsiechenden Dörflern zu den sich über die Insolvenz eines Urlaubsvermittlers schwarz ärgernden Wohlstandsbürgern gemacht hat.


Hier sind 4 Begriffe aneinandergereiht, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben - denn "economies of scale" gab es auch in den grossen "realsozialistischen" Kombinaten der untergegangenen DDR, und das bei einer heutzutage absolut unvorstellbaren Produktionstiefe (oder eben nicht-Spezialisierung). Und ob nun die Globalisierung - die ja bei den meisten Autoren als ein Phänomen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gesehen wird - nun wirklich erst aus "siechenden" Dörflern "gebildete" Wohlstandsbürger gemacht hat - lag das nicht viel eher an Schulpflicht, medizinischer Forschung und Aufklärung, Sozialgesetzgebung und staatlicher Umverteilung, beginnend im späten 19. Jahrhundert ?


Und natürlich war und ist Arbeitsteilung auch jenseits von Grosskonzernen möglich. Wenn Grosskonzerne tatsächlich ein mehr an Arbeitsteilung bewirken, so darf doch gefragt werden, wieviel uns die damit bescherte Effizienzsteigerung wert ist. Und das ist eben keine betriebswirtschaftliche, sondern eine gesellschaftliche Frage - und die betroffenen Gesellschaften müssen eben auch in der Lage sein, darüber zu entscheiden.


D Schon klar: Nicht alle haben gleichermassen von diesem, ja, Fortschritt profitiert, aber fast alle sehr viel. Auch in Afrika sind Lebenserwartung und –standard heute auf einem viel höheren Niveau als vor den Zeiten der weltweiten Spezialisierung und Arbeitsteilung.


Die Formulierung "fast alle sehr viel" könnte man fast für etwas sehr ungenau halten... denn gerade in Afrika sind - unter den Ländern und innerhalb der Länder selbst - oft groteske Wohlstandsdifferenzen wahrnehmbar.

Und auch hier der unzulässige Schluss von Korrelation auf Kausalität: die weltweit zunehmende Arbeitsteilung kann zu Wohlstandsmehrung beigetragen haben, aber genausogut können auch die Afrikaner selber "produktiver" geworden sein.


E Viele Dinge und Institutionen hätten wir gar nicht, wenn es nicht BIG gäbe. Der Apparat, an dem ich sitze (ein $250-LapTop), und die Institution (www), die mir die schnelle und billige Übermittlung dieser Gedanken über die Kontinente hinweg erlaubt.


Die "Institution" Internet ist leider ein denkbar schlechtes Beispiel für "we need big corporations": In seinen frühesten Ausformungen (DARPANET) von Forschern des US-Verteidigungsministeriums gerade mit der Zielsetzung ersonnen, auch bei Ausfall vieler und/oder grosser Netzknoten funktionieren zu können, wurde es in späterer Zeit hauptsächlich durch öffentliche Forschungseinrichtungen weiterentwickelt (Tim Berners-Lee am CERN et.al.).

Wenn wir heute der Illusion erliegen, ohne die grossen Kommunikations-Konzerne (Vodafone, Verizon etc.) würde es kein Internet geben, dann nur deswegen, weil wir eben vertraglich an diese Big-players gebunden sind. Den IP-Datenpaketen wäre es vollkommen egal, ob sie nun auf den verschiedenen Netzwerkknoten weniger Grossanbieter oder über Knoten vielerlei regionaler Anbieter zum jeweiligen Adressaten hüpfen müssten.


F Die immensen Investitionen, die für die Entwicklung einer neuen Generation von Computern, den Aufbau eines GPS, die Entwicklung eines Medikamentes oder eines Verkehrsmittels erforderlich sind, erfordern einen zugänglichen potenziellen Absatzmarkt von der Grösse der USA, der UdSSR oder China. Und Produktionsorganisationen (Firmen) von der Grösse eines Microsoft, Airbus oder Volkswagen…konzerns.


Seien wir einen Moment wohlwollend und glauben unbesehen an die "immensen Investitionen", stören wir uns ebenfalls nicht daran, dass GPS vom US-Verteidigungsministerium beauftragt und bezahlt wurde (und unsere heissgeliebten Navis nur schlichte Zweitverwertungen derselben Technik sind), ersetzen wir "UdSSR" durch das zeitgemässere Russland, dann soll der Sinn des Satzes - in Bezug auf EU und "Brexit" - doch wohl sein, dass die grossen Konzerne nur gedeihen können, wenn sie ein genügend grosses heimatliches "Spielfeld" haben. Wenn das stimmen würde, so hätten die grossen europäischen Konzerne eigentlich erst nach Umsetzung des Binnenmarktes in den 1990er Jahren entstehen dürfen. ALLIANZ, CONTINENTAL, MERCK, SIEMENS oder BNP, GENERALI, TOTAL und UNILEVER sind aber allesamt viel älter und auch allesamt viel länger international tätig. Und so ist es nur logisch, dass Airbus seine profitabelsten Geschäfte in Japan, China und im Nahen Osten macht und Volkswagen seine grössten Investitionen nicht in Italien oder Griechenland, sondern den USA und China tätigt. Auch die "kanadische" Bombardier konnte (noch ganz ohne CETA) zu einem der führenden Schienenfahrzeughersteller auf dem europäischen Markt werden.

Zu glauben, dass die europäischen Konzerne eine Art von der EU gestellten "Laufstall" benötigen, in dem man sie aufpäppeln muss, bevor sie der Konkurrenz der bösen US-Konzerne ausgesetzt werden können, ist doch naiv. Diese Argumentation unterstellt den grossen Konzernen eine Art Kirchturmperspektive, die diese doch schon längst hinter sich gelassen haben. Wo es ein Geschäft zu machen gibt oder wo man ein solches zu erkennen glaubt, dort wird "investiert". Und der Heimatmarkt, der für die Entstehung der Konzerne sicher seine Bedeutung hatte, wird im Verlaufe dieses Prozesses immer unwichtiger und wird, wenn es der Markt "gebietet", auch ohne Sentimentalität aufgegeben (man denke an OPEL und Bochum). Trotzdem werden die Konzernlenker, wann immer es um entsprechende Zuschüsse oder andere "Rahmenbedingungen" geht, Ihren jeweiligen politischen Counterparts mit Inbrunst von der innigen Bindung an die Stadt, die Region, das Land oder eben "Europa" erzählen - PR halt ...


G Maybe big is not beautiful – but necessary, zumindest für den ökonomischen Fortschritt, den wir Wohlstandsbürger oft unbewusst als gegeben „hinnehmen“ und auch noch gerne beschimpfen, für den Jahr für Millionen Flüchtlinge mit ihren Füssen „abstimmen“.

 

Wenn BIG (Stichwort: Konzerne, egal ob volkseigene, staatliche oder private) für den ökonomischen Fortschritt essentielle Voraussetzung war und ist, auf dessen Früchte wir nicht verzichten mögen, stellen sich im Politischen für Europa – und die Welt – zwei Herausforderungen:


Anerkennung meinerseits für den (erneuten) Spin, das schlechte Gewissen des Wohlstandsbürgers angesichts der Mittelmeerflüchtlinge für die Botschaft "big is necessary" einzuspannen. Natürlich ist auch hier wieder die Fehlinterpretation am Werk, ich wollte alle Unternehmen verzwergen. Gewiss sollte ein Stahlunternehmen sich einen echten Hochofen und nicht nur ein Modell davon leisten können, ein Automobilunternehmen braucht Stahlpressen, Abgas-Messgeräte und CAD-Computer, ein Versicherungskonzern sollte nicht so klein sein, dass er schon beim ersten zu regulierenden Schadensfall pleite geht. Die Frage ist doch, ab welcher Grösse die sich ebenfalls einstellenden schädlichen Effekte (nur als Beispiel seien Umweltschäden und Steuervermeidung genannt) die möglichen Vorteile weiterer Effizienzsteigerung übersteigen. Und diese Betrachtung muss natürlich unter einem gesellschaftlichen und nicht einem betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkt erfolgen.


Im zweiten Satz wird, geschickt als Konditionalsatz getarnt, ohne Begründung vorausgesetzt, dass "Grösse essentielle Voraussetzung für ökonomischen Fortschritt war und ist". Gewiss, auf Schienen des Krupp-Konzerns (aber auch vieler anderer Firmen) ist die deutsche Eisenbahn bis in die entlegensten Winkel des wilhelminischen Reiches gekommen - andererseits aber wäre man ohne die übergrossen Krupp'schen Kanonen vielleicht nicht so leichtfertig in das Abenteuer des ersten Weltkriegs gezogen. Gewiss, die "moderne Berliner Republik" führt natürlich keinen Krieg mehr - oder war Afghanistan doch ein Krieg ? Welchen Anteil daran hat der deutsch dominierte europäische Rüstungskonzern EADS ? Und welchen Anteil wiederum haben die Kriege oder "Militärinterventionen" des "freien Westens" an den aktuellen Flüchtlingswellen ?


H Einen Raum mit möglichst allen Merkmalen eines gemeinsamen Marktes (Freizügigkeit für Menschen Waren Kapital, Zoll- und Währungsunion etc.) zu schaffen, der gross genug ist, damit auch für Firmen in Europa die Grössenordnung von Investitionen tragbar ist, mit denen die US-amerikanischen Firmen sonst den Weltmarkt monopolisieren würden – was wir ja nun alle nicht wollen. Ohne gemeinsamen Markt, an dessen Merkmale der Gemeinsamkeit durchaus noch nicht perfekt sind, wie Du so treffsicher schreibst, gäbe es heute kein Volkswagen-Pendent zu General Motors und keinen Airbus zu Boing. Die „ever closer union“ als antiimperialistisches Instrument, wie gefällt Dir das?


Im ersten Satz werden fast exakt die "vier Grundfreiheiten" der EU *2 aufgelistet (es fehlt die "Dienstleistungsfreiheit") und noch einmal postuliert, dass man eine Art europäischen Schutzraum für die zarten Pflänzchen der europäischen Konzerne benötige, damit diese ein Gegengewicht zu den US-Konzernen bilden können. Am Schluss gibt es gar die Vision, das Ganze könne zu einer Art "antiimperialistischer Union" werden.

Helmut Schmidts Standpunkt zu Visionen war klar: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen."

In diesem Fall eine besonders absurde Vision, denn im Klartext bedeutet das ja, dass man gerade die Gross-Konzerne mit ihren inhärenten anti-demokratischen Strukturen fördern soll, damit man nachher nicht unter einem Monopol, sondern nur unter einem Duopol leben müsse. Wobei ja garnicht gesagt ist, ob am Ende nicht doch ein Monopol daraus wird (Stichwort Monsanto-Übernahme durch BASF).


J Die andere grosse Herausforderung: Die mit der Grösse wachsende Macht der (europäischen u.a.) Konzerne muss durch eine politische Organisation „auf Augenhöhe“ in Grenzen gehalten, kontrolliert und in politisch gewollte Bahnen gelenkt werden (mein recht sozialdemokratisches Axiom hier: let’s smoothen the rough edges of capitalism). Das geht nicht allein mit ein paar andauernd zerstrittenen Nationalstaaten. Eine mit bedeutenden Hoheiten ausgestattete, dennoch demokratisch legitimierte überstaatliche Struktur muss her: Die alles andere als perfekten Institutionen der EU. Zu bürokratisch, aber immerhin werden Regeln aufgestellt, die den „wilden Kapitalismus“ doch sehr in Zaum halten in EU-Land. Demokratische Legitimierung: Naja, (noch!) nicht vom Feinsten, ...


Der Gedanke, dass sich erst eine "auf Augenhöhe" mit den Gross-Konzernen befindliche EU-Bürokratie der Macht ebendieser Konzerne entgegenstellen könne, erscheint zunächst nicht unlogisch. Nur ist die Evidenz eine ganz andere: die angeblich "andauernd zerstrittenen" Nationalstaaten konnten (ihre eigenen und ausländische) Konzerne zu EWG-Zeiten viel besser in Grenzen halten und kontrollieren als die immer grösser werdende EU.

Und die EU bleibt da ja nicht stehen, mit CETA und TTIP rollt sie ja den allergrössten Konzernen (natürlich auch aus den USA) den roten Teppich aus und befördert über die Schiedsgerichte und die sogenannte "regulatorische Kooperation" nicht nur die Entmachtung der Nationalparlamente, sondern auch des EU-Parlaments. Und die "mangelnde demokratische Legitimierung" ist durchaus nicht die Folge eines "noch nicht erreicht", sondern eines "gar nicht mehr gewollt". Jedenfalls war genau das ja die Zielsetzung des Vertrags von Lissabon.


K Aber wir wollen doch wohl nicht zurück zur Kleinstaaterei, die Deutschland und die Deutschen so lange zurückgehalten hat in Europa und der Welt, oder? Die Zeit des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, auf das Du oft rekurrierst, ist doch lange schon nicht mehr (nur) das Selbstbestimmungsrecht der Badenser gegenüber den Württemberger, sondern das Selbstbestimmungsrecht des Viel“völker“staates Deutschland.


Vermutlich ist dem Schreiber nicht bewusst, dass er mit der Formulierung "Kleinstaaterei, die Deutschland und die Deutschen so lange zurückgehalten hat in Europa und der Welt" sich genau in der Argumentationslinie der "Grossdeutschen" aus der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts befindet. Jene wollten es - endlich ! - den anderen Grossmächten jener Zeit gleich tun, insbesondere den Franzosen, die ja mit Napoleons "Grande Armee" gerade erst gezeigt hatten, welche Machtausdehnung eben auch mithilfe der Nationalstaatsidee möglich war.

Zur Zeit der Paulskirche noch unbefriedigt, schien nach dem "Reichsgründungkrieg" 1870/71 der nationale Machtgedanke zunächst saturiert. Aber rund zwei Jahrzehnte später war es vielen unter den "Eliten" nicht mehr genug, es musste "ein Platz an der Sonne" oder "Weltgeltung" her. Und diese sollte der zunehmend als feindlich empfundenen Umwelt am besten mit Waffenandrohung abgerungen werden. Von da war es nicht mehr weit bis 1914 und dem "Grossen Krieg".



Wieso dieser historische Exkurs ? Weil fast hundert Jahre später auch den wiedervereinigten Deutschen nach rund zwanzig Jahren die so sehr bejubelte Einheit nicht mehr reichte. Natürlich war eine Konfrontation mit Frankreich oder Grossbritannien nicht mehr zeitgemäss, im übrigen auch kaum irgendwie profitabel. Aber wäre es nicht möglich, quasi "per procura" zur ersehnten Weltgeltung zu kommen ? Konnte man nicht die EU, wenigstens teilweise, zum Vehikel einer neuen deutschen Machtpolitik machen ? Wer sich noch daran erinnert, wie sehr ein Herr Kauder darüber jubilierte, dass in der EU "nun endlich deutsch gesprochen werde" (nach einem sehr im Sinne der Bundesregierung abgeschlossenen EU-Krisengipfel über Griechenland),

wer die Reden vor der Münchener Sicherheitskonferenz und die beständig fortgeschriebenen Einsatzprofile der Bundeswehr sich vergegenwärtigt, der findet m.E. diese These bestätigt. Natürlich ist das keine rein nationale Machtpolitik mehr wie Anfang des 20. Jahrhunderts, da sie sich in einem Geflecht (oder Gestrüpp ?) vielfältiger bi- und multinationaler Beziehungen und Verträge abspielt. Aber die Motivation ist immer noch dieselbe wie zu Kaisers Zeiten: endlich Weltgeltung ! (oder aber "globale Machtprojektion", wie das heutzutage im newspeak der "Sicherheitsexperten" heisst).




Zurück zur Kleinstaaterei: Wie schlimm war sie eigentlich, diese Kleinstaaterei ? Wenn man nach den vielen kleinen Schlössern und Residenzen geht, die auch heute noch gerade die Mitte Deutschlands zieren, eine Zeit recht behaglichen Wohlstands. Nicht überraschend, da sie auch eine Zeit mit wenigen (und kleinen) Kriegen war. Man könnte auch die berühmte Kuckucksuhr-Rede von Orson Welles paraphrasieren: "Was brachte uns die deutsche Kleinstaaterei: Goethe und Schiller, Lessing und Kant. Was brachten uns 12 Jahre Grossdeutsches Reich: Goebbels und Jud Süss."


Im übrigen ist auch die Beschreibung Deutschlands als eines "Vielvölkerstaats" ziemlich unangemessen. Badener und Bayern, Hessen und Rheinländer betrachteten sich stets als Teile eines deutschen (oder "teutschen") Volkes - auch wenn man sich von Zeit zu Zeit nicht immer "grün" war.


L Naja, und der nächste logische Schritt ist eben auch die politische Union auf europäischer Ebene, das Selbstbestimmungsrecht des Vielvölkerstaates Europa. Dass deren Institutionen und Instrumente in ständiger konstruktiver Auseinandersetzung mit den Nationalstaaten verbessert werden müssen, steht ausser Frage. Einfach eine Mücke machen, wie 52% der Brits (gegen die Mehrheit der Jungen, Schotten und Nordiren) gerade beschlossen haben – das sehe ich eben als historischen Rückschritt an.

Man kann vermutlich sagen, dass die Gründung des Deutschen Reiches nach den Vorläufern Zollunion und Nordeutscher Bund der nächste logische Schritt war - aber eben auch deswegen, weil das Ergebnis ein Nationalstaat war mit allen inhärenten Vorteilen. Sicher können auch Vielvölkerstaaten sinnvolle Organisationsformen sein, aber sie brauchen dann auch eine verbindende Staatsidee. Beim Vielvölkerstaat Österreich bzw. Österreich-Ungarn war das eben die berühmte Donaumonarchie, beim Vielvölkerstaat Yugoslawien der unter Tito vereinte Widerstand gegen die Nazi-Besatzung. Wenn die Staatsidee nicht mehr trägt, so wie es in Österreich-Ungarn am Anfang des 20. und in Yugoslawien gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Fall war, dann neigen solche Gebilde zu raschem Zerfall.


Was ist nun die verbindende Staatsidee der europäischen Union ? Da wird es schwierig, denn eigentlich gibt es keine und darf es auch keine geben - da die EU vertragsgemäss kein Staat ist.


Von den selbsternannten Eliten wird gerne das so unerhört fein ausgesponne Regel- und Richtlinienwerk, eben die "Institutionen und Instrumente", zum Teil der "europäischen Idee" verklärt - aber wenn es zum Schwur kommt, will sich auch von den Eliten lieber keiner daran halten.

Auf der Ebene der einfachen Bürger sind es viel profanere Dinge, die z.B. bei Beitrittsabstimmungen den Ausschlag geben: welches Wirtschaftwachstum wird prognostiziert, welche EU-Beihilfen können in Anspruch genommen werden, kann man einfacher in ein anderes Land ziehen, um der heimischen Arbeitslosigkeit zu entkommen.

Und für die meisten Bundesbürger erschöpft sich die "EU-Idee" darin, dass man in den wichtigen Urlaubsländern mit der heimischen Währung zahlen kann und dass "der EURO irgendwie gut für die deutsche Wirtschaft" ist, damit möglichst bald der nächste Rekordwert beim Exportüberschuss erreicht wird.



Wenn ein überdehnter oder überlebter Vielvölkerstaat zerfällt, so zerfällt er i.d.R. nicht in irgendwelche willkürlichen Trümmerstücke, sondern entlang von Sprach- und/oder Ethnien-Grenzen. Wieso ? Weil sich ein Konsens über die (neue) Staatsform natürlich am besten bei gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Kultur bildet. Vielleicht war das der grösste Trugschluss der wirklich um "Union" bemühten Eliten, dass sie glaubten, es gäbe schon eine gemeinsame Sprache und Kultur. Denn die EU-Elite, die wir ja immer öfter zu Gross-Konferenzen oder "Krisengipfeln" in Ihren Limousinen vorfahren sehen, spricht längst eine gemeinsame Sprache (ein mehr oder minder verständliches Business-English) *3, sie verkehrt in den immer austauschbarer erscheinenden Hotels, wird an immer gleicher ausgestatteten Flughäfen empfangen und trinkt an den Konferenztischen vermutlich das immer gleiche Mineralwasser (allerdings sind die Aufkleber wohl unterschiedlich - Apollinaris oder Gerolsteiner …).

Aber das europäische Fussvolk lebt immer noch in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, hat ganz unterschiedliche Wohn-, Arbeits- und Freizeitperspektiven. Ich lese manchmal britische Zeitschriften oder Zeitungen und sehe öfter France24 (allerdings auf Englisch, Französisch kann ich nicht hinreichend), und schon da zeigen sich ganz unterschiedliche Gewichtungen und Themenkreise.


Wollte man das Versagen unserer EU-Eliten als Tragödie beschreiben, so müsste man sagen: "sie kamen zu früh und wollten zu viel". Denn möglicherweise wäre in 30 oder 40 Jahren - wenn alle Europäer nur noch ein amerikano-spanglish mit einigen deutschen und französischen Lehnwörtern sprechen und alle Supermärkte JC-Penny-ALDI heissen - die Zeit reif für den einen europäischen Superstaat, reichend von der Maas über die Memel bis an die kurische Nehrung, von Malta bis zum Nordkap … *4




Alternativ könnten die europäischen Tansatlantiker auch Nägel mit Köpfen machen und endlich - statt der langwierigen TTIP-Verhandlungen - Anträge zur Aufnahme in die USA schreiben. Dann wäre der "riesige transatlantische Wirtschaftraum" sofort Wirklichkeit, und die versprochenen gewaltigen ökonomischen Vorteile sicher sofort zu sehen (Ironie aus).


Möglicherweise wollen aber gar nicht alle Europäer Teil einer "Euro-Sosse" sein, und da sind wir wieder beim Selbstbestimmungsrecht der Briten und ihrem Recht zum Brexit. Dies muss einem deutschen Beobachter nicht gefallen, aber es nun mit dem Hinweis auf anders votiert habende Teilmengen der Briten ("die Jungen", die Schotten, die Nordiren) als irgendwie unrichtig oder feige ("eine Mücke machen") abzukanzeln, ist schon reichlich überheblich. Zumal sich das mit dem überwältigenden "Remain" der Jugend schon längst als Propaganda erwiesen hat: die jüngste Wählergruppe hat mit rund 36% eben auch eine total unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung gezeigt.

Und die Schotten ? Natürlich könnten sich diese um eine Neuaufnahme in die EU bewerben, aber erst, wenn sie die staatliche Souveränität wiedererlangt haben. Gerade das haben sie erst vor 2 Jahren im entsprechenden Referendum abgelehnt. Ich kann mir gut vorstellen, dass die damals mit NO abstimmenden Schotten zu einem Gutteil identisch sind mit jenen, die am 23.6. dieses Jahres mit REMAIN gestimmt haben. Und wahrscheinlich aus denselben Gründen: weil sie den vom Establishment beide Male betriebenen Angstkampagnen vom sonst drohenden wirtschaftlichen Abstieg geglaubt haben.


Da hätte die EU ja einen Ansatz gehabt, der so oft beklagten "EU-Müdigkeit" der Bürger zu begegnen. Wann aber war jemals der Ausbau des Sozialstaates oder die Verbesserung der Daseinsfürsorge Thema eines EU-Gipfels ? Wenn die EU-Politik für Griechenland wegweisend ist, so kann man sehen, wohin die Reise gehen soll: Reduktion aller sozialstaatlichen Errungenschaften auf das absolute Minimum.


Diese Ignoranz und/oder Feindschaft allem Sozialen gegenüber ist natürlich kein Zufall. Denn gerade in Brüssel rotiert die Drehtür zwischen öffentlichem Amt und gutbezahltem Spitzenposten in der Wirtschaft besonders heftig. Anschaulich an Personen wie Mario Draghi (von Goldman Sachs zur EZB) und Jose Manuel Barroso (von der EU-Kommission zu Goldman Sachs) zu sehen.




Schliesslich muss noch etwas zu den Segnungen der Markwirtschaft (die sich im 250-Dollar-Notebook manifestiert) und den "immensen Investitionen", die angeblich nur die Big-player-Konzerne aufbringen können, gesagt werden:


Die erstaunliche "Entfesselung der Produktivkräfte" durch Marktwirtschaft und Kapitalismus haben ja schon Marx und Engels regelrecht bewundert, und man konnte das ja auch später immer wieder beobachten - wenn etwa nach der 1989er "Wende" nahezu alle ostdeutschen Haushalte ruckzuck mit Farbglotzen, Videorecordern und Westautos ausgestattet wurden. Diese Tatsache will ich weder in Abrede stellen noch will ich zu einem vorindustriellen Idyll zurück. Aber dass die Machtkonzentration in Grosskonzernen hochproblematisch ist, haben eben auch schon viele und berufenere vor mir festgestellt. Der US-Senator Sherman, der die nach ihm benannten Anti-Trust-Gesetze durchsetzte, wusste es ebenso wie Woodrow Wilson oder Dwight D. Eisenhower, als er in seiner Abschiedsrede vor dem militärisch-industriellen Komplex warnte.

Die Zerschlagung von Konzernen wie Standard Oil, IG Farben oder Bell Corp. war ja nicht das Werk von wildgewordenen Sozialromantikern, sondern von eigentlich durchaus industriefreundlichen Politikern. Nur sind ja unsere Anti-Kartell-Behörden, national wie EU-seitig, mittlerweile vollkommen "zahnlos". So ist mein Vorschlag einer progressiven Unternehmensbesteuerung gerade darauf ausgerichtet, nicht erst "ex-post" längst zu mächtig gewordene Konzerne wieder möglichst ohne "Kollateralschäden" auseinandernehmen zu müssen, sondern schon deren Entstehung zu verhindern. Möglicherweise ist mein Steuervorschlag da auch nicht der richtige Weg - da bin ich für bessere Alternativen vollkommen offen.




Schliesslich zu den "immensen Investitionen", die nur die die ganz grossen Konzerne stemmen könnten. Es ist richtig, dass beispielsweise die Entwicklung eines neuen Pkw-Modells durch einen Konzern wie Volkswagen heutzutage wesentlich grössere Investitionen erfordert als seinerzeit bei Herrn Borgward, der die Formen des Isabella-Pkws eigenhändig aus Ton heraus modellierte. Nur ist ja der Grossteil dieser Summen nicht für die eigentliche Produktentwicklung, sondern genau für die Umsetzung im Konzernverbund notwendig: es muss eben nicht mehr nur ein Fliessband in Bremen umgestellt werden, sondern es müssende Dutzende auf vielleicht 3 Erdteilen umgestellt werden, es müssen Ingenieurteams "in alle Welt" geschickt werden, damit die neuen Anlagen auch optimal eingerichtet werden etc. pp..

Und selbst die eigentliche Produktentwicklung hat einen konzern-spezifischen "overhead": Da z.B. der Golf die technologische Plattform für über ein Dutzend ähnlicher Konzernmodelle ist, muss natürlich auch bei der Konstruktion der Vorderrad-Aufhängung auf alle konzern-möglichen Motorvarianten Rücksicht genommen werden, auch der konzernweite Standard zu Elektrozubehör muss eingehalten werden etc..

Das Produkt selber ist in den Jahrzehnten seit Borgward natürlich auch komplexer geworden, aber durchaus nicht in dem Umfange, wie man angesichts der gelegentlich publizierten "Entwicklungskosten" annehmen könnte.


(Juli 2016)






*1 Die ITU oder International Telecommunication Union sorgt seit über 100 Jahren für die Standards, die weltweites Telefonieren (oder früher Telegraphieren) ermöglichen (und hat unter anderem das berühmte SOS-Signal eingeführt).


*2 Die Benennung als "vier Grundfreiheiten" lehnt sich natürlich in der Form an die früher bekannteren "four freedoms" von Franklin Delano Roosevelt an. Diese 1941 von FDR proklamierten Freiheiten waren:

Freedom of speech / Freedom of worship / Freedom from want / Freedom from fear

(Redefreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit von Not, Freiheit von Furcht). Und diese Freiheiten sollten den "Menschen in aller Welt" zustehen.


*3 Viele unserer Bundesminister hören wir im Fernsehen mittlerweile öfter englisch als deutsch reden, weil sie sich auf irgendwelchen "Gipfeln" befinden und natürlich nicht auf einen Übersetzer warten können. Der Inhalt wird dann entweder untertitelt oder (mässig gut übersetzt) übersprochen. Demgegenüber hat etwa de Gaulle bei solchen Gelegenheiten fast nie englisch gesprochen (obwohl er es gut konnte), weil er nicht durch eine unbeabsichtigt ungelenke Wortwahl missverstanden werden wollte. Gab es später doch Auslegungsdifferenzen, so konnten es beide Seiten ohne Gesichtsverlust auf die Dolmetscher abschieben.


*4 Wem die Formel bekannt vorkommt - ich habe natürlich bewusst ähnlich zur ersten Strophe des Deutschlandliedes formuliert: "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt! Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt!" Wenn sich nun bei einem Teil der deutschen EU-Befürforter dieser Nationalstolz in einen europäischen "transzendiert", kann man das für einen Fortschritt halten. Ich tue es nicht.