"My own Government..."



1.

Eine merkwürdige Unruhe hat mich nach dem 7.Oktober ergriffen, etwas, das mich oft schlecht schlafen lässt. Gewiss, die Bilder, die wir momentan aus und um Gaza zu sehen bekommen, sind - wie die übliche gewordene Warnmeldung verheisst - wahrlich "verstörend". Aber habe ich nicht, seit ich als Jugendlicher die TV-Nachrichten aus Vietnam ansehen konnte, schon genug andere "verstörende" Bilder gesehen - Bilder wie das vom napalm-verbrannten vietnamesischen Mädchen Phan Thi Kim Phuc 1972 (siehe z.B. hier)*1. Und konnte ich nicht mein Essen in aller Ruhe einnehmen, während und trotz der Bilder von immer neuen Konflikten und Krisenherden, die seither über den Bildschirm flimmerten? Wieso berührt es mich auf einmal, wenn ich einen palästinensischen Vater sein Kind aus den Trümmern eines von einer Bombe zerstörten Hauses ziehen sehe? Werde ich nur langsam alt, sentimental und tränenduselig?



2.

Braucht es vielleicht nur einen wissenschaftlichen Gradmesser, um all' diese Konflikte und das dadurch verursachte Leid objektiv zu messen? Könnten kluge Wissenschaftler nicht eine Einheit dafür bestimmen, vielleicht "1 PAIN" genannt - und dann wären die Leiden der neunjährigen Kim Phuc als "x PAIN", die Leiden eines Soldaten, dem eine Artilleriegranate das Bein abreisst, als "y PAIN" zu beziffern? Und die Leiden einer israelischen Mutter, die ihren Sohn im Kugelhagel eines Hamas-Kämpfers hat sterben sehen, wären dann "z PAIN"?

Und spätestens nach Einstellung der Feindseligkeiten könnte man all' das akkumulierte Leid akkurat saldieren, und ein freundlicher Leitartikler würde mich dann vielleicht darüber aufklären, dass meine Unruhe ob des Geschehens in Gaza eigentlich gegenstandlos war. Weil dort nur "138'000 kilo-PAIN" zusammenkamen, während es in der Uraine doch schon "490'000 kilo-PAIN" seien - und schliesslich beides verblasse vor den "1,4 mega-PAIN", die die US-Irak-Kriege verursacht hätten?

Andererseits ist mein Anliegen eigentlich so simpel, dass es keine hochwissenschaftlichen Berechnungen benötigt:

Ich möchte einfach, dass das Sterben aufhört - in Gaza ebenso wie in der Ostukraine. Möglichst rasche und umfassende Waffenstillstandsabkommen, gefolgt von Friedensverhandlungen - darum müsste es gehen, und dafür müssten sich die zivilisierten Regierungen der Welt einsetzen *2.



3.

Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima am 7. August 1945 wurde der bekannteste japanische Atomforscher, Professor Nishina, von der Regierung an den Ort des Geschehens beordert, um die Schäden aufzuzeichnen und eventuell mögliche Abwehrmassnahmen zu bestimmen. Robert Jungk beschrieb seinen Besuch wie folgt: "Er blieb der sachliche, genau rechnende, äußerlich kühle Forscher, der nicht die Leiden der Hölle, sondern ihre exakten Maße aufzuzeichnen hatte." *3

Tatsächlich ist es, gerade wenn es um eine "Antwort", um eine politische Reaktion auf solche Tragödien geht, sicher ratsam, sich nicht von allzuviel Emotion leiten zu lassen, sondern einigen Abstand zu gewinnen. Wobei wir in den letzten drei Jahren erleben mussten, dass von den etablierten Medien statt Abstand und rationaler Betrachtung oft geradezu extreme Emotionalisierungen gepflegt wurden - von den Sargtransporten in Bergamo über die frierenden Mütter in der Ukraine bis hin zu den Toten in den israelischen Kibbuzim.

Politik jedoch muss als "die Kunst des Möglichen" zuerst einmal die "exakten Maße" des Konflikts umreissen und die widerstreitenden Interessen möglichst genau benennen, bevor ein konstruktiver Vorschlag überhaupt formuliert werden kann. "Realpolitik" ist also angesagt, aber nicht in einem zynischen, macchiavellistischen Sinne, sondern als realistisches Ringen um tragfähige Lösungen.



4.

Der "globale Einfluss" der Bundesrepublik war sicher auch in früheren Jahrzehnten recht beschränkt. Zuallererst musste sich der Nachfolgestaat des NS-Regimes überhaupt erst wieder als ernstzunehmender Partner beweisen. Ob alle Richtungsentscheidungen, die insbesondere Konrad Adenauer in dieser Frühphase als erster Kanzler der BRD traf, nun unbedingt richtig waren, war und ist Gegenstand ernsthafter Debatte.

In der Rückschau ist jedoch nicht zu übersehen, dass Kanzler wie Brandt, Schmidt und auch noch Kohl durchaus gefragte Gesprächspartner nicht nur in Europa waren. Die Gründe dafür waren neben der wirtschaftlichen Stärke der BRD auch erwiesenes diplomatisches Geschick - jedenfalls weit mehr als etwa die militärische Stärke der Bundeswehr (schliesslich sollte das einst vom Spiegel kolportierte Urteil über dieselbe als nur "bedingt abwehrbereit" *4 der Truppe auch in den folgenden Jahrzehnten hartnäckig anhängen).

Wie steht es wohl um Ansehen und Einfluss der Bundesregierung in der Welt von heute?



5.

Wenige Monate nach ihrer Amtsübernahme reiste die frischgebackene Aussenministerin Baerbock im Januar 2022 nach Moskau, um unter anderem über die verweigerte Ausstrahlungsgenehmigung für "RT Deutsch" zu reden. In der abschliessenden Pressekonferenz belehrte sie ihren Amtkollegen Sergej Lawrow noch einmal über ihr Verständnis von "Fressefreiheit". Im dazu veröffentlichten Video meine ich auf dem Gesicht Lawrows Bestürzung zu erkennen - Bestürzung darüber, wie eine solche intellektuelle Leerstelle auf den Aussenamts-Posten gehoben werden konnte. Nun, etliche Monate später, in denen Frau Baerbock "hunderttausende Kilometer" entfernte Länder aufgesucht, dabei verbale "360-Grad-Wenden" hingelegt hat und en passant der zweitgrössten Atommacht der Erde den Krieg erklärte, ist der Stand der Dinge wohl so: Wer auch immer es in den Ministerien der Welt vermeiden kann, der frisch hereingeschwebten Streiterin für "feministische Aussenpolitik" zu begegnen, lässt sich besser verleugnen, als sich die in seltsam schnarrendem Englisch vorgetragenen Platitüden der Hobbydiplomatin anzutun.

Und wie sieht es beim aktuellen Kanzler aus? Manchem ausländischen Beobachter mag es ob der nur scheibchenweise ans Licht kommenden Wahrheit über die Warburg-Verstrickungen des Olaf Scholz so vorkommen, als sei der Kanzler hochgradig erpressbar. Oder aber er erklärt sich die "Gedächtnislücken" des Zeugen Scholz mit einer neuen Krankheit, der "dementia partialis voluntaris".

Auch Scholz war Anfang 2022 beim Vertreter einer nuklearen Grossmacht. Nachdem er als Reaktion auf die nur wenig verklausulierte Ankündigung eines Sabotageanschlags auf das wichtigste deutsche Infrastrukturprojekt durch den US-Präsidenten nur sein gefürchtetes "Honigkuchen"-Lächeln zustandebrachte *5, mag das in den politischen Kreisen des "globalen Südens" noch als vornehme Zurückhaltung registriert worden sein. Spätestens mit der vollendeten Sprengung der NordStream-Pipelines ein knappes Jahr später und der zutage tretenden Weigerung der BRD-Regierung, Ursachen und Urheber der Explosionen auch nur ermitteln zu wollen, dürfte den meisten Regierungschefs folgendes klar sein: Dieser Kanzler hat die Souveränität seines Landes gegen eine - zumindest für ihn selbst behagliche - Vasallen-Position aufgegeben. Wer in der weiten Welt sollte einer Regierung, die sich selbst in der Wahrung der ureigensten nationalen Interessen als unfähig erweist, noch Respekt entgegenbringen? Oder sie gar als Vermittler in internationalen Krisen hinzuziehen wollen?



6.

Ziemlich genau ein Jahr vor seinem gewaltsamen Tod hielt der Bürgerrechtler Martin Luther King eine Rede, in der er den Zusammenhang zwischen dem Kampf seiner schwarzen Landsleute um Gleichberechtigung mit dem massenhaften Sterben im fernen Vietnam beschrieb *6. Und obwohl - oder besser gerade weil - er auch in dieser Rede von seinem "geliebten Heimatland" USA spricht, stellte er am Ende eines Absatzes geradezu resignierend fest:

"...the greatest purveyor of violence in the world today [is] -- my own government..."

(...der grösste "Lieferant" von Gewalt in der heutigen Welt ist -- meine eigene Regierung...")

Und würde "MLK" heute aus seinem Grabe steigen und sich umsehen, er müsste den Satz wiederholen: Die USA sind immer noch (und waren es über die letzten Jahrzehnte nahezu kontinuierlich) der grösste Lieferant von Gewalt überhaupt, sei es durch direkte Kriegsbeteiligung, exorbitante Waffenlieferungen oder mehr oder minder verdeckte "regime change"-Operationen *7. Irgendjemand hat ausgerechnet, dass die USA in ihrer nunmehr rund 240-jährigen Geschichte nur rund fünf Jahre lang nicht in Kriege oder grössere Militäroperationen involviert waren. Die Zahl mag zweifelhaft sein - unzweifelhaft ist der in den letzten Jahren zunehmende Drang der US-Eliten, jeden beliebigen Konflikt mindestens zu einem profitträchtigen Absatzmarkt für US-Waffen zu machen.

Und ebenfalls nur durch die Unterstützung der USA kann sich der Staat Israel eine - schon Jahrzehnte andauernde - Verweigerungshaltung gegenüber allen die Palästina-Frage betreffenden UN-Resolutionen "leisten". US-Waffen, US-Geld und US-Einflussnahme schirmen die israelischen Regierungen vor jeglichen negativen Folgen ab *8.

Hier kommt nun die Regierung des "besten Deutschlands aller Zeiten" (Steinmeier) ins Spiel, "meine" Regierung (die ich zwar nicht gewählt habe, auch die sie tragenden Parteien nicht), die aber eben doch mein Land in der Welt vertritt. Eine Regierung, die die ihr durchaus gebotenen Möglichkeiten zur Konfliktberuhigung (in Palästina) oder gar zur Konfliktauflösung (in der Ukraine) willentlich nicht nutzt, sondern geradezu sklavisch der jeweiligen Linie der US-Regierung folgt. Und nun wird mir klar, warum mich die Bilder aus Gaza so berühren:

"Der treueste Handlanger der kriegstreiberischen US-Eliten ist -- meine eigene Regierung..."






(18.11.2023)



*1 Das kleine Mädchen hat den Krieg überlebt und die von ihr mit ins Leben gerufene Stiftung widmet sich vielerlei humanitären Projekten (siehe https://kimfoundation.com/projects/ .

*2 Nach langem Ringen hat der UN-Sicherheitsrat (UNSC) eine Resolution zum Israel-Gaza-Konflikt verabschiedet, die - sozusagen als humanitäres Minimum - die Einhaltung mehrstündiger Feuerpausen fordert. In gewohnter Missachtung der UN-Beschlüsse hat sich Israel geweigert, solche Feuerpausen einzuhalten.

*3 Zitiert nach ""Heller als tausend Sonnen" (Seite 204). Jungk führt weiter aus, dass Nishina in Wirklichkeit über das angerichtete Unheil höchst entsetzt war - umso mehr, als er ja vor dem Krieg die meisten bedeutenden Atomwissenschaftler auch der USA persönlich kennen- und schätzen gelernt hatte. Und es war klar, dass eine Vielzahl von diesen an dem US-Bombenprojekt beteiligt gewesen sein mussten.

*4 Der so betitelte Artikel in einer SPIEGEL-Ausgabe des Jahres 1962 führte bald zu einer handfesten Regierungskrise. Während Kanzler Adenauer in seltener Emotion einen "Abgrund von Landesverrat" erblickte, fühlte sich das jüngste Kabinettmitglied dazu berufen, allerlei ungesetzliche Massnahmen zur Festsetzung der vermeintlichen Landesverräter anzuordnen. Das war dann auch der Beginn einer nun gar nicht "wundervollen Freundschaft", sondern lebenslangen Feindschaft zwischen den damaligen SPIEGEL-Journalisten und Franz-Josef Strauss.

*5 Einen kurzen Ausschnitt aus der Pressekonferenz vom Februar 2022 kann man hier sehen: https://www.youtube.com

Bidens Sätze sind es unbedingt wert, der Nachwelt erhalten zu bleiben, und seien hiermit nochmals verbatim zitiert:

>> PRESIDENT BIDEN: The first question first. If Germany — if Russia invades — that means tanks or troops crossing the — the border of Ukraine again — then there will be — we — there will be no longer a Nord Stream2. We will bring an end to it.

Q[uestion:] But how will you — how will you do that exactly, since the project and control of the project is within Germany’s control?

PRESIDENT BIDEN: We will — I promise you, we’ll be able to do it. << (Quelle: https://www.whitehouse.gov )

*6 Den Redetext findet man u.a. hier: https://web.mit.edu/21h.102/www/Primary%20source%20collections/Civil%20Rights/Beyond_Vietnam.htm

*7 Eine unvollständige Liste würde u.a. enthalten: Grenada 1983 - Panama 1989 - Irak-Kuwait 1990 - Somalia 1992 - Haiti 1994 -

Afghanistan 2001 - Irak 2003 - Lybien 2011 - Syrien 2014ff. - Ukraine seit 2014 …

*8 Wobei man eigentlich mittlerweile "Israel vor sich selber schützen" müsste, wie es etwa der US-Militär Douglas MacGregor kürzlich formulierte (siehe z.B. weltwoche.ch).



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