Guérot, Röper und der Vielvölkerstaat



1.

Was macht einen Vielvölkerstaat aus? Die blosse Anwesenheit von verschiedenen Ethnien sicher nicht, denn z.B. die USA umfassen zahlreiche und ganz verschiedene Ethnien - die sich jedoch selbst in aller Regel nicht als Völker bergreifen, sondern als Teil der US-Nation *1. Auch Mehrsprachigkeit allein ist kein wesentliches Kriterium, denn auch z.B. die Schweizer betrachten ihr mehrsprachiges Staatsgebilde keineswegs als Vereinigung von Völkern.

Geradezu ein Musterbeispiel für einen Vielvölkerstaat stellte hingegen die "k.u.k"-Doppelmonachie Osterreich-Ungarn dar, welche von 1867 bis 1918 existierte. Unter dem Dach dieses Staates waren nicht nur die heutigen Nachfolgestaaten Österreich und Ungarn vereinigt, sondern auch Teile der späteren Tschechoslovakei, Polens und der West-Ukraine (auch Galizien genannt). Im später Yugoslawien genannten Gebiet kamen noch Serben, Slowenen, Kroaten und andere Völker hinzu. Und da die meisten dieser Gruppen ausgesprochen nationale Identitäten hatten, konnte man mit Fug und Recht von einem Vielvölkerstaat sprechen.



2.

Die Europäische Union ist zwar "satzungsgemäss" kein Staat, aber es ist nicht zu übersehen, dass die zentralen Brüsseler Behörden, insbesondere die EU-Kommission, sich zunehmend so benehmen, wie wenn es EIN Staat wäre. So gesehen wäre auch die EU ganz gewiss ein "Vielvölkerstaat". Zwei neuere Bücher kreisen nun (freilich nicht ausschliesslich) um dieses Europa und die EU:






3.

Viele Menschen glauben immer noch, Wikipedia sei ein "ganz normales Lexikon", nur halt online. Dies mag bei "unpolitischen" Themen aus Biologie oder Physik der Fall sein. Geht es aber um aktuell politisch oder gesellschaftlich diskutierte Themen, ist es aus mit lexikalischer Distanz und Neutralität *2. Besonders bei als "umstritten" bezeichneten Personen wird die Wikipedia zum Kampforgan, so auch bei unseren drei Autoren:



Wikipedia.de zu Ulrike Guérot:

>Der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust warf dem Buch Endspiel Europa verschwörungstheoretisches Denken ohne jeden wissenschaftlichen Gehalt vor. Es bediene antiamerikanische Vorurteile, wie sie – allerdings dazu noch antisemitisch aufgeladen – bereits Adolf Hitler vertreten habe.< ... >In einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juni 2022 nannte der Politikwissenschaftler Markus Linden Guérot eine „Ikone der Querdenkerszene“, die in Talk-Shows wiederholt halbwahre bis falsche und dort nicht sofort überprüfbare Behauptungen aufstelle.<

Wikipedia.de zu Hauke Ritz:

>Im Oktober 2022 erschien unter dem Titel Endspiel Europa ein gemeinsam mit der Politologin Ulrike Guérot verfasstes Buch, das sich mit dem Russisch-Ukrainischen Krieg und seiner Bedeutung für das „politische Projekt Europa“ beschäftigt. Diese als Essay bezeichnete Veröffentlichung wurde von den etablierten Medien und Fachwissenschaftlern fast einhellig negativ beurteilt. Der Osteuropa-Historiker Martin Aust warf Guérot und Ritz „politische Propagandarede“ vor. Das Werk sei eine „Absage an die Wissenschaft“ und reproduziere eine „sattsam bekannte Verschwörungsthese“.<

Wikipedia.de zu Thomas Röper:

>Seit 2018 betreibt er das Blog Anti-Spiegel. Darin beteiligt er sich oft an der Verbreitung von falschen Behauptungen, Desinformationen, Verschwörungstheorien und russischer Regierungspropaganda.<

Solcherart mit den abwertenden Signalwörtern "Verschwörungstheorie", "antisemitisch", "Querdenker" und "Propaganda" bombardiert, werden sich sicher einige mit Schaudern von den vermeintlichen "Machwerken" der genannten Autoren abwenden. Wer sich aber noch einen Rest Neugier bewahrt hat, schlägt die Buchdeckel doch auf und findet reichlich gute Analysen und Anregungen zum Nachdenken.



4.

Das Stichwortverzeichnis von Röpers Buch listet für "EU" beachtliche 40 Fundstellen auf, was zwar deutlich weniger ist als die Fundstellenzahl für "Ukraine" (59) und "USA" (86), aber erstaunlicherweise weit mehr als die 4 für "NATO". Im Inhaltsverzeichnis allerdings findet sich kein einziges speziell der EU gewidmetes Kapitel. Als eigenständige, gar weltpolitisch zentrale Institution scheint Röper die EU nicht zu sehen.

Ganz anders bei Guérot/Ritz, was nicht verwundert, ist doch die EU und Europa das zentrale Thema in der beruflich-wissenschaftlichen Karriere von Ulrike Guérot. Dem Buch vorgestellt ist eine Widmung an Michail Gorbatschow und Jacques Delors, letzterer von 1985-1995 EU-Kommissionspräsident. Man tut Frau Guérot sicher nicht unrecht, wenn man Delors als prägende Figur ihres frühen "Europa-Lebens" bezeichnet.

Unser derzeitiger Bundeskanzler hat kürzlich Demonstranten als "gefallene Engel aus der Hölle" bezeichnet *3, die mit ihren ständigen Forderungen nach Verhandlungen, Waffenstillstand und Frieden perfiderweise nur der Ukraine den wohlverdienten "Endsieg" über Russland streitig machen wollen. So betrachtet, hat von den drei Autoren Guérot auf jeden Fall die höchste "Fallhöhe" gehabt. Denn vor dem Jahr 2020 war sie ein regelrechter Medienliebling, die von den Hauptmedien gerne interviewt wurde, deren Essays gerne abgedruckt und auf deren Bücher man mit Empfehlung verwiesen hatte.

Das Wohlwollen war auch gerechtfertigt, denn in ihren Schriften war gelegentliche dezente Kritik an den EU-Strukturen stets überdeckt von Stolz über die erreichte Integration und "Vertiefung", von Lob für die erreichten "Meilensteine" gemeinsamer Markt und gemeinsame Währung und optimistischen Prognosen über die EU-Zukunft. Wenn überhaupt, dann wollte Guérot damals "noch mehr EU", und fand auch, dass sich dies in die "aktuellen Megatrends" wie "Feminismus, LGB *4, Klimaschutz, Elektromobilität..." bestens einreihe. Freilich wollte sie schon damals die EU nicht mehr auf Nationalstaaten ruhend sehen, sondern schwärmte von einer auf den alten Regionen wie Savoyen oder Piemont aufbauenden, den Nationalstaat endgültig überwindenden neuen EU-Republik. In ihrem damaligen Bestseller "Warum Europa eine Republik werden muss!" war das alles schön ausgeschmückt bis hin zu Skizzen von künftigen EU-Parlamentsgebäuden, die den neuen Geist des "dissensual interregionalism" in Beton, Stahl und Glas ausdrücken sollten.

Spätestens mit ihrem Essayband "Wer schweigt, stimmt zu" von 2022 war das mediale Wohlwollen dahin. Den mit der Ausrufung der Corona-Pandemie verhängten Zwangsmassnahmen erteilte sie darin eine höfliche, aber bestimmte Absage, und liess sich auch nicht von der ausgerufenen Gefahr des "Beifalls von der falschen Seite" schrecken. Wie schon Enzensberger formuliert hatte, ist dies nicht nur einfach ein "falsches Argument", sonder "das totalitäre Argument".

Hier soll es aber nicht um "Corona" gehen, sondern um das jüngste Buch, nunmehr zusammen mit Hauke Ritz verfasst. Von der Verklärung der EU zum Nukleus einer "wahrhaftigen Republik" ist nichts mehr übrig geblieben, stattdessen befasst sich ein ganzes Kapitel mit dem "europäischen Abstieg". Ein paar Absatzüberschriften verdeutlichen die Krisendiagnose:

Bankenkrise - Kulturelle Hegemonie und umgekehrter Totalitarismus - Die Zerstörung der europäischen Sozialdemokratie - Amerikas Pläne zur Spaltung Europas - Die Eskalation beginnt - Verrat an Europa - Die Gründe des europäischen Scheiterns - Der europäische Selbstbetrug - Wir sind nicht die Guten.

Aus dem letztgenannten Absatz seien einige Sätze zitiert:

>Der grösste Selbstbetrug ist, dass Europa und seine Gesellschaften es sich so selbstgerecht in ihrer vermeintlich demokratischen Überlegenheit gegenüber Russland eingerichtet haben, dass sie nicht einmal bemerken, mit welchen perfiden Methoden des umgekehrten Totalitarismus in Europa schon längst regiert wird: Manipulation, Nötigung und systematische Angsterzeugung im Modus 'permanenter Notstandspolitik' (Fabio Vighi), Es müsste langsam jedem klar werden, dass wir uns auch in den westlichen Demokratien nicht mehr in pluralen demokratischen Medienlandschaften befinden, sondern in einem von interessierter Seite gekauften Propagandakrieg, in dem mit lang erforschten CIA-Methoden und sogenannten neurological warfare gearbeitet wird. Die schweren Waffen in der Ukraine sind gleichsam nur eine Art Ablenkung vom eigentlichen Krieg, der gegen die menschliche Intelligenz, vor allem aber auf die menschliche Intuition zielt, und zwar durch emotionale Einwirkung in Form von Bildern von Bergamo bis Mariupol, und mithin auf die Strukturen des menschlichen Gehirns durch Erzeugung von Angst und Panik.< (Seite 155-156, Kursivstellungen im Original)

5.

Thomas Röper als "russophil" zu beschreiben ist sicher nicht vermessen. Schon seit Jahren lebt er in Russland, spricht fliessend russisch und sieht es als seine journalistische Aufgabe an, interessierten Bürgern in der BRD das grosse Land im Osten, seine Menschen und - nicht zuletzt - die politischen Zielrichtungen der dortigen Regierung nahezubringen. Also ganz gewiss kein neutraler Beobachter, aber ein engagierter Erläuterer und Analytiker. Der zweite Untertitel des Buchs "Wie das westliche System sich gerade selbst zerstört und was Russland wirklich will" ist Programm: Das, was Guérot und Ritz noch mit Entsetzen beschreiben, nämlich die freiwillige Unterwerfung der europäischen Eliten unter das Diktat der alternden Hegemonialmacht USA, nimmt Herr Röper als schon längst nicht mehr zu leugnendes Faktum wahr. Über die inneren Befindlichkeiten des EU-Blocks zu spekulieren, ist Röper keinen Absatz mehr wert. Zu beschreiben sind für ihn nur noch die jeweils erreichten Stufen der Vasallierung.

Auch hier macht ein Blick auf einige Kapitelüberschriften klar, worum es geht:

Westliche Werte vs. russische Werte, LGBT und Gender, Migration, NGO's, Faktenchecker, Medien, Stiftungen, OSZE, Die "regelbasierte Weltordnung", Das Völkerrecht.

Zitieren wir auch aus Röpers Buch einen kurzen Absatz:

>Die Ziele der US-Politik, die auch die EU-Staaten und die NATO treu umsetzen, werden von privaten Stiftungen festgelegt, die wiederum von Milliardären gegründet und von ihnen und der Wirtschaft finanziert werden. Es sind also nicht die Ziele der einfachen Menschen in den USA, die weniger Kriminalität, eine bessere Infrastruktur, bezahlbare Bildung und ein bezahlbares [und] Gesundheitssystem und vieles andere haben möchten, es sind die Ziele einiger weniger Milliardäre, die ihren Reichtum und ihre Macht mehren wollen. Aus diesem Grund benutze ich für sie den per Definitionem korrekten Ausdruck "Oligarchen", denn sie üben mit ihrem Geld die Macht über die Politik aus.< (Seite 163 - zum von mir in eckige Klammern gesetzten 'und' siehe *5)

Gerade die Passagen über die Vernetzung von Milliardären, Stiftungen, Fondsverwaltern, Banken und sogenannten "NGO's" sind hochinteressant und sollten jedem gläubigen Konsumenten der Konzernmedien zu denken geben.



6.

Eine vielleicht besser politische Hauptströmungen abbildende Einteilung als das altbekannte rechts-links-Schema sind für mich die Kategorien "wert-konservativ" und "struktur-konservativ". Der struktur-Konservative will die vorhandenen (Macht-)Strukturen nicht ändern, sondern höchstens noch ausbauen. Demgegenüber will der wert-Konservative einmal als richtig und positiv erkannte (moralische, gesellschaftliche) Werte erhalten und gegen Angriffe interessierter Mächte verteidigen, auch um den Preis, dafür gelegentlich alte Strukturen einreissen zu müssen. Das erklärt auch, warum gerade unter "alt"-Konservativen, welche z.B. früher CDU wählten und von der "Merkelisierung" der Partei aus derselben vertrieben wurden, nun ausgerechnet das moralisch konservative Russland und sein Präsident zunehmend Sympathien gewinnen. Werte wie Familie, soziale Verantwortung und echte Solidarität *6 sind eben mit der Privatisierung und Atomisierung aller Lebensbereiche nicht vereinbar, und ganz folgerichtig werden die im "Wertewesten" geförderten gesellschaftszersetzenden Trends, wie z.B. die Leugnung der Zweigeschlechtlichkeit, in Russland eben abgelehnt und ihre Propagandisten (zu denen oft hochgelobte "NGO's" zählen) wo nötig eingebremst.



7.

"Je suis la France !" ("Ich bin Frankreich") ist eine General de Gaulle zugeschriebene Äusserung, die uns Deutschen, allem nationalen Pathos gründlich entwöhnt, ziemlich pompös vorkommt *7. Wer sich aber in der tiefsten französischen Provinz zum Friedhof der Gemeinde Colombey les deux Eglises begibt, wo de Gaulle seine letzte Ruhestätte fand, erblickt auf einem breiten mehrstufigen Podest Dutzende dieser Tafeln *8:




Und man könnte zur Überzeugung kommen, dass der General, mindestens für gewisse Perioden und für Mehrheiten seiner Landsleute, tatsächlich ganz Frankreich symbolisierte und vertrat.

Die heutigen westeuropäischen Staatslenker sind von solcher Bewunderung weit entfernt. Von kurz vor den jeweiligen Wahlen mittels ausgeklügelter PR hochgeputschten Bestätigungswerten abgesehen, pendeln sich die per Umfragen ermittelten Zustimmungswerte danach recht bald zwischen 20 und 30 Prozent ein (derzeitig etwa Macron bei 26%, Scholz bei 25%). Demgegenüber wird der russische Präsident Putin von seiner eigenen Bevölkerung schon seit Jahren mit Zustimmungswerten von mindestens 60% bedacht, aktuell sind es sogar 82% *9 . Meine Vermutung wäre, dass auch die russische Bevölkerung ihren Präsidenten als jemanden ansieht, der die nationale Freiheit und Souveränität wieder errungen hat - so wie de Gaulle sein Frankreich aus den Trümmern des zweiten Weltkriegs wieder zum Rang einer freien und souveränen Nation führte (mit Brecht sollten wir uns natürlich daran erinnern, dass auch die "grossen Männer der Geschichte" nie allein wirkten und wirken, sondern ihre Erfolge nur zusammen mit anderen tüchtigen Frauen und Männern erringen konnten bzw. können).



8.

In "Endspiel Europa" wird wiederum - wie schon im Bestseller "Warum Europa eine Republik werden muss" - ein aus dem 16. Jahrhundert stammender Holzschnitt reproduziert, die sogenannte "Königin Europa" aus dem Museum Retz. Die Landkarte Europas ist dort mit einiger künstlerischer Freiheit in die Form einer Frauenfigur (oder laut Überschrift "Jungfrau") gebracht, und die Länder Europas bilden Kopf, Brust, Arme und Unterleib der Figur. War die Darstellung im 2017er Buch noch als Untermauerung der These von einem anzustrebenden Europa der Regionen (von "Anglia" über "Saxonia" bis "Walachia") gedacht, entsinnen sich Guérot/Ritz im aktullen Buch, dass am Saum des Rockes der Europa noch etwas namens "Russia" vorkommt. Zitieren wir also aus "Endspiel Europa", Seite 177: "

"Wirtschaftlich und energiepolitisch könnte eine föderale Europäische Republik eine Kooperation mit dem Vielvölkerstaat Russland eingehen, das als Föderation ebenfalls seit Jahrzehnten ein Gespür für die Unabhängigkeit von unterschiedlichen Kulturen, Regionen und Sprachräumen hat."

Bezüglich Kulturen, Sprachräumen, Regionen (und Religionen!) in Russland könnte Thomas Röper sicher nur zustimmen und führt das auch teilweise in seinem Buch näher aus. Nur die Guérot'sche "föderale Europäische Republik" erscheint als schwärmerische Kopfgeburt, denn als oekonomistisch-kapitalistisches System ist die real existierende EU geradezu der Feind aller regionalen Kulturen, Sprachen und Religionen. Und so sehr die - vielleicht späte - Erkenntnis von Guérot/Ritz zu begrüssen ist, dass Politik zwar einiges zu ändern vermag, aber nicht die Geografie (wie u.a. Egon Bahr richtig sagte), so sehr mangelt es an Hinweisen, wie denn die Staaten Europas oder die EU wieder zu einer realpolitischen Wahrnehmung zurückfinden könnten. Realpolitik bedeutet hier, zur Kenntnis zu nehmen, dass es immer einen Nachbarstaat im Osten geben wird, ob nun "Sowjetunion" oder "Russische Föderation" oder sonstwie genannt. Da man sich nicht für ewig hinter einem - diesmal von der Westseite aus errichteten - "Eisernen Vorhang" wird zurückziehen können, braucht es also eine (Wieder-)Annäherungspolitik.

Trotz des meist optimistischen Tons lässt einen das Buch von Guérot und Ritz also am Ende ziemlich ratlos zurück - wie soll es denn jetzt weitergehen?



9.

Thomas Röper klingt weniger optimistisch, eher scheint er oft von einem "gerechten Zorn" angetrieben. Er zitiert erneut aus einer Putin-Rede: "Seht ihr, was ihr angerichtet habt?" *10, wobei mit "ihr" der kollektive "Westen" gemeint ist (überhaupt machen allein schon die übersetzten Auszüge aus Reden Putins das Werk lesenswert).

Wer die Diagnosen von Guérot/Ritz und Röper kombiniert, fragt sich allerdings, warum Frau Guérot geradezu zwanghaft entweder mittelalterliche Organisationsformen Europas oder aber vollkommen hypothetisch-künstliche zur Basis eines "neuen" Europas machen will. Denn es gibt ja Organisationsformen, die ihre historische Eignung längst bewiesen haben und nebenbei auch das Fundament der UN und der UN-Charta bilden: Die (in der Regel) Nationalstaaten (weswegen es ja auch Vereinte Nationen heisst).

Sicher hat Frau Guérot dabei eine im Nachkriegsdeutschland einstudierte Begriffsfolge im Kopf: Staat > Nationalstaat > Nationalismus > Bellizismus. Nur gibt es ja keinerlei Zwanghaftigkeit, warum ein Nationalstaat in einen kriegerischen Nationalismus abgleiten müsste, es gibt genügend Gegenbeispiele. Und umgekehrt: der "Vielvölkerstaat" EU reitet ja seit nunmehr anderthalb Jahren auf einer ungeheuren Woge des Bellizismus (jedenfalls die "Eliten" der EU).

Wobei die EU gleichzeitig in den Basisfunktionen eines modernen Staates zunehmend scheitert: Die Sozialsysteme werden geschliffen, die Bürgerrechte eingeschränkt, die Grenzen nicht mehr gesichert. Und so wie der (echte) Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zunehmend an Legitimation verlor, ja von vielen schlicht als "Völkergefängnis" bezeichnet wurde, so verliert die EU rasend schnell an Legitimität, noch bevor sie sich überhaupt zu einem "echten" Staat im Sinne der Eurokraten verfestigt hätte.

Angesichts des transatlantischen Vasallentums, das sowohl die EU-Führung als auch die meisten nationalen Regierungschefs demonstrieren, erscheint die EU als das "Völkergefängnis" unserer Zeit. Und wenn man nicht, wie einst die k.u.k.-Eliten, alles hinauszögern will bis zu einem grossen Knall, wäre dann die Annäherung an eine "Russische Weltordnung" möglicherweise angesagt? Röper selbst setzt diesen Begriff in Anführungszeichen, vermutlich weil von seiten der offiziellen russischen Aussenpolitik auch genauer von der Multipolaren Weltordnung geredet wird. Und egal wie man es dreht und wendet, die künftige Weltordnung wird eine multipolare sein, schon weil sich ökonomische Grossmächte wie China und Indien nicht mehr in die unipolare Weltordnung "made in USA" zwingen lassen. Auch die afrikanischen Länder haben es zunehmend satt, von USA und EU wie unmündige Befehlsempfänger behandelt zu werden (siehe die aktuelle Putschwelle in "FrancAfrica"). Und die Basis dieser Weltordnung wäre, wenn es nach der aktuellen russischen Regierung ginge, im besten Sinne werte-konservativ, also die UN-Charta und das von der UN entwickelte Völkerrecht *11 - statt einer undefinierten bzw. je nach Interessenlage auch umdefinierten "regelbasierten Weltordnung" nach Gusto der USA.

In so einer multipolaren Weltordnung kann nur wirklich mitwirken, wer als souveräner Staat agiert. Deshalb muss der Souveränitätsverlust, den die EU-Staaten und eben auch die BRD durch EU und NATO erlitten haben, möglichst rückgängig gemacht werden. Ein Austritt aus NATO und EU wäre die logische Folgerung. Da mag sich mancher fragen, ob so etwas überhaupt möglich ist. Aber für beide Vorgänge gibt es Präzedenzfälle, im Falle des BREXIT, also dem Austritt Grossbritanniens aus der EU, liegt es ja noch gar nicht solange zurück. Und auch ein NATO-Austritt wurde schon vorexerziert, nämlich durch Frankreich in den 1960er Jahren *12. Die treibende Kraft war damals der schon erwähnte Charles de Gaulle, aus genau den Gründen der durch die NATO beschnittenen Souveränität.



10.

Mitte Juni erntete der bayerische Vize-Ministerpräsident Aiwanger auf einer Demonstration in Erding viel Beifall für diesen Satz: "Und es ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende grosse Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss." Man mag zu Herrn Aiwanger stehen wie man will, der grosse Zuspruch zeigt jedoch, dass immer mehr Menschen den Eindruck haben, trotz aller formalen Demokratie immer weniger Einfluss auf die Politik in diesem Land zu haben. Und dieser Eindruck wird inzwischen von zahlreichen Beobachtern, auch in wissenschaftlichen Studien (z.B. Affluence and Influence: Economic Inequality and Political Power in America - Princeton University Press), bestätigt. Zur Demokratie gehören eben nicht nur Wahlgänge nach festgelegtem Rhythmus, sondern die Möglichkeit, die Entscheidungen der letztlich Ausführenden dann auch beeinflussen zu können. Es geht also um Souveränität, sowohl innen- als auch aussenpolitisch. Die sich in der BRD an der Macht ablösenden Parteien sind aber programmatisch nahezu ununterscheidbar geworden, quasi eine CDUCSUSPDFDPGrüne-Gesamtpartei. In ihrer EU- und NATO-Hörigkeit geben sie beständig weiter Souveränitätsrechte an diese und andere supra-nationale Organisationen wie z.B. die WHO ab, und die jeweiligen Repräsentanten sonnen sich noch in der Gnade, als "dienende (Unter-)Führer" des Hegemons USA tätig sein zu dürfen *13. Ob der Impuls zur politischen Restrukturierung diese Landes, wie nach dem Weltkrieg, wieder von aussen kommen muss? Diesmal vielleicht aus Afrika oder Asien...



20. September 2023



Information zu den erwähnten Büchern:

Ulrike Guérot und Hauke Ritz: "Endspiel Europa", ISBN 978-3-86489-390-2 / Thomas Röper: "Putins Plan", ISBN 978-3-96850-014-0

Die Fotografien im obigen Text sind vom Autor eigenerstellt.


*1 Erwähnenswerte Ausnahmen wären die Ureinwohner Nordamerikas, in deren Land die vorwiegend angelsächsischen Siedler und späteren Gründer der USA ja, oft genug gewaltsam, eindrangen. Eine "Indian Nation" wird deshalb von einigen Repräsentanten dieser Völker reklamiert, aber ohne Hoffnung, einer solchen "Nation" einen rechtlichen oder gar territorialen Rahmen geben zu können. Auch gab es in der Gruppe der schwarzen US-Amerikaner immer wieder Personen, die eine eigene Nation "aller Schwarzen" propagierten, z.B. ein Lois Farrakhan mit seiner "Nation of Islam". Freilich ebenso nur mit beschränkten Widerhall.

*2 Sinnvolles zu Struktur und Methoden der wikipedia erfährt man u.a. hier: http://wikihausen.de/

*3 Siehe z.B. die Berliner Zeitung.

*4 Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war 2016, als ihr Buch "Warum Europa eine Republik werden muss!" erschien, das gute alte "lesbian-gay-bisexual" noch nicht zu der heutigen Buchstabensuppe LGBTQIA+ aufgeblasen...

*5 Das im Text bindungslos gewordene "und" ist ein Beispiel für in Röpers Buch leider recht häufig vorkommende lektorische Unachtsamkeiten, die aber i.d.R. nicht verständnishemmend sind.

*6 Mit dem Begriff "Solidarität" ist ja in den letzten drei Jahren enormer Schindluder getrieben worden, wenn etwa das Ausgrenzen von Ungeimpften als solche verkauft wurde. Auch die Zwangs-Solidarität mit "der Ukraine" ist ein Widerspruch in sich...

*7 Vermutlich war der Satz, erstmals ca. 1940 gegenüber dem britischen Aussenpolitiker Lord Halifax verwendet, weniger pompös als kämpferisch gemeint. Denn zu dieser Zeit war sich die britische Aussenpolitik durchaus unsicher, ob man im Kampf gegen Nazi-Deutschland besser auf die die Vichy-Regierung oder auf das von de Gaulle proklamierte "Freie Frankreich" setzen sollte.

*8 Stellvertretend sei der Text der mittleren Tafel übersetzt: "Fidelite Gaulliste Normandie würdigt General de Gaulle, der am 14. Juni 1944 das Land Frankreich befreite und in seiner Rede vom 16. Juni 1946 den Grundstein für die Fünfte Republik legte"

*9 Den Wert für Macron nennt aktuell das französiche IFOP, die Werte für Scholz und Putin stammen von statista.de.

*10 Dies ist gleichzeitig der Titel eines früheren Buches von Röper, welches vorwiegend Übersetzungen von Reden des russischen Präsidenten umfasst.

*11 Dass das Völkerrecht auch im Falle der Auseindersetzung zwischen der Ukraine und Russland nicht so eindeutig auszulegen ist, wie es die Standard-Formulierung der Mainstream-Medien ("der völkerrechtswidrige Krieg gegen die Ukraine") nahelegt, wird von Röper in einem eigenen Kapitel dargelegt.

*12 Der "Austritt" Frankreichs verlief sozusagen in Stufen und ist deshalb als Beispiel umso wirkungsvoller. Auch ein neuzeitlicher Austritt eines Landes aus der NATO könnte in gestufter und abgestimmter Weise erfolgen.

*13 Der FOCUS schreibt am 02.03.2022 über den Besuch des Ministers Habeck in den USA: >In den USA sei man erfreut, dass Deutschland bereit sei, "eine dienende Führungsrolle auszuüben".<



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