Grüne Dilemmata: Eine Partei und ihr Werkzeug



1. Die Erwartung

Ein Leser dieser Seiten schrieb mir folgendes, sicher auch in Bezug auf die anstehende Bundestagswahl:


>Wer kann denn überhaupt etwas Ausreichendes gegen den Klimawandel herbeiführen, wenn nicht die Grünen?<


Diese hohe Erwartungshaltung gegenüber der Partei "Die Grünen" überrascht nicht, gehören doch Ökologie im allgemeinen und der Kampf gegen den Klimawandel im Besonderen geradezu zum "Markenkern" der 1980 gegründeten Partei (wieso "wir" oder eher die Journalisten es sich angewöhnt haben, Parteien mit Begriffen aus dem Marketing zu beschreiben, wäre einen eigenen Text wert).


Dies soll übrigens kein weiterer "Baerbock-bashing"-Text werden, Jens Berger hat auf den Nachdenkseiten einen lesenswerten Artikel verfasst (hier), der schon als politischer Nachruf gelten könnte. Aber seit Mark Twain wissen wir, dass Totgesagte oft länger leben, entsprechend tourt Frau Baerbock unverdrossen weiter durch die deutschen Lande, das Fernziel "Kanzlerschaft" und das Nahziel "Bundestags-Direktmandat" fest im Blick.



2. Werkzeuge gegen den Klimawandel


Das Thema "Klimawandel" ist spätestens seit den "Fridays-for-future"-Demos ganz nach oben in der öffentlichen Debatte gelandet. Das Zitat aus dem ersten Absatz zeigt, dass viele am ehesten den Grünen einen entschlossenen Umgang mit diesem Problem zutrauen. Bevor wir das näher beleuchten, versetzen wir uns in eine recht banale Alltagssituation, die dem einen oder anderen vielleicht schon passiert ist: Man fährt mit dem Pkw auf einem Feld- oder Waldweg und gerät unvermittelt in eine tiefe Matschgrube. Die Räder drehen haltlos durch, und auch alles Schieben und Drücken hilft nichts: das Fahrzeug steckt fest. Grosses Glück, wenn dann ein Bauer oder Waldarbeiter auf einem Traktor daherkommt und anbietet, den Wagen aus dem Schlammloch zu ziehen.


Hat man aber nun selber kein Abschleppseil im Wagen und der freundliche Helfer ebensowenig, ist Improvisation angesagt. Vielleicht findet der freundliche Helfer in seinem Werkzeugkasten ein paar Meter Blumendraht? Da brauchen wir nicht lange zu überlegen, mit Blumendraht wird man einen tonnenschweren Pkw nicht aus einem Schlammloch ziehen können. Der guten Absicht des Helfers zum Trotz führt das Fehlen des passenden Werkzeugs, in diesem Falle also Abschleppseil oder -Stange, dazu, dass der "Karren" weiterhin feststeckt.


In gewisser Weise sind die Wahlprogramme der Parteien deren "Werkzeugkästen", ganz unbesehen von den Fähigkeiten des Führungspersonals, es dann auch umsetzen zu können. Was in diesen Werkzeugkästen nicht "drin" ist, hat a priori kaum Chancen auf Verwirklichung, selbst dann, wenn eine Partei unwahrscheinlicherweise die absolute Mehrheit erringen und eine Alleinregierung bilden könnte.



3. Der Karren steckt fest...


Ökologisch betrachtet steckt der "Karren" (und nicht zwar nicht nur der der BRD) ziemlich fest im Sumpf aus Konzern- und Partikularinteressen fest. Womit wollen also die Grünen die berühmte "ökologische Wende" herbeiführen? Wie sind diese Werkzeuge zu bewerten, sind es, um im Bild zu bleiben, solide Abschleppstangen bzw. hochfeste Abschleppseile, oder doch nur dünner Blumendraht?


Werfen wir einen Blick ins 272-seitige (!) Wahlprogramm der Grünen. Natürlich habe auch ich dieses nicht vollständig gelesen, aber einige Kernsätze vor allem aus den beiden ersten Kapiteln sind mir ins Auge gefallen:


"Mit jährlichen Investitionen von 50 Milliarden Euro in die sozial-ökologische Transformation schaffen wir sichere Arbeitsplätze." (Webseite)


"Die sozial-ökologische Modernisierung stärkt die Wettbewerbsfähigkeit hiesiger Unternehmen und kann zu einer Renaissance von Industriearbeitsplätzen führen." (S.17)


"Die Einnahmen aus dem nationalen CO2-Preis geben wir als Energiegeld (pro Kopf) an die Menschen zurück." (S.20)


"Mit Windenergieausbau den Wirtschaftstandort Deutschland sichern" (S.23)


"Wir sehen, mit welcher Agilität Unternehmer*innen neue Ideen oder Geschäftsmodelle entwickeln und dabei auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden wollen." (S.57)


"Wir nutzen Konzepte wie Wachstum, Effizienz, Wettbewerb und Innovation als Mittel zum Zweck und bemessen klimagerechten Wohlstand, das eigentliche Ziel von Politik, neu." (S.58)


"Nur wenn auch der Staat seinen Teil beiträgt, wenn öffentliche und private Investitionen gemeinsam auf ein Ziel ausgerichtet werden, wird Europa den Anschluss im Bereich moderner Zukunftstechnologien halten und sich im Wettbewerb mit den USA und China behaupten können." (S.60)


"Wir setzen auf ehrlichen Interessenausgleich, auf eine feministische Außenpolitik, die Achtung der Rechte marginalisierter Gruppen, auf Zusammenarbeit und Rechtsstaatlichkeit, auf Gewaltfreiheit und koordinierte Krisenprävention und regelbasierte sowie vorrangig zivile Konfliktbearbeitung in einer eng vernetzten Welt." (S.219).


Zunächst einmal, und das wird auch beim tieferen Nachlesen deutlich, finden sich herzlich wenig konkrete Angaben, wie denn das ganze "schaffen, wollen, werden, sichern" nun umgesetzt werden soll - gibt’s es eine Vermögenssteuer und in welcher Höhe, wird der Mehrwertsteuersatz gesenkt, wieviele Windkraftwerke sollen pro annum errichtet werden? Dafür reichlich Begriffe, die auch in jedem Aktien-Anlegerprospekt gerne verwendet werden: Transformation, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftsstandort, Agilität, Wachstum, Effizienz, Wettbewerb, Innovation, Investitionen.



4. Energiegeld


Halten wir uns zuerst an den scheinbar konkretesten Satz aus obiger Auswahl, das Energiegeld. "Die Einnahmen aus dem nationalen CO2-Preis geben wir als Energiegeld (pro Kopf) an die Menschen zurück."


Hier muss ich zugeben, dass ich trotz näherem Studiums nicht verstanden habe, wie das funktionieren soll. Zunächst einmal kollidiert ja die Vorstellung eines "nationalen CO2-Preises" mit dem EU-ETS (Emission Trading System), welches die Grünen ebenfalls reformiert sehen wollen. Dann ist es mit der Festsetzung eines nationalen CO2-Preises schon einmal schwierig, denn da müsste ja eine innereuropäische Abstimmung vorgeschaltet sein. Weiterhin ist das "ETS" ein System des Handels mit CO2-Zertifikaten an Börsen. Ganz offensichtlich generiert Börsenhandel an sich eo ipso noch keine Steuereinnahmen, die dann eine Bundesregierung "pro Kopf" an ihre Bürger verteilen könnte.


Denken wir uns deshalb vorläufig diesen "nationalen CO2-Preis" irgendwie mit einer Steuer, eben einer CO2-Steuer, belegt oder gekoppelt, die dann Steuereinnahmen generiert (wobei der Terminus CO2-Steuer im Wahlprogramm ebensowenig auftaucht wie Energie-Steuer oder Klima-Steuer). Diese Einnahmen könnte man selbstverständlich verteilen, aber wie? Soll das "pro Kopf" bedeuten, dass - wenn beispielsweise 8,3 Milliarden Euro Einkünfte gegeben wären - jeder Bundesbürger einfach 100 Euro erhält? Für jemanden, der eher wenig fossile Energie verwendet, könnte das ein "guter Deal" sein und Anreiz, das Energiegeld beispielsweise in zwei zusätzlichen Tankfüllungen anzulegen. Vom Energiesparziel her gesehen wäre das weniger gut.


Vielleicht soll es aber auch eine Art Erstattungssystem im Rahmen der jährlichen Steuererklärung sein. Der Steuerbürger würde nachweisen, dass er z.B. in 2020 für 1800 Euro getankt hat ("Tankbelege bitte beifügen") und in 2020 für dieselbe Spritmenge 1926 Euro bezahlt hat, mithin Anspruch auf 126 Euro Energiegeld hat. Das wäre dann zwar "individuell gerecht", aber ebenfalls von der beabsichtigten Lenkungswirkung her eher kontraproduktiv.


In beiden obigen Beispielen bin ich stillschweigend davon ausgegangen, dass als Energiegeld nur das wieder verteilt wird, was die Bürger an Mehrbelastung durch die CO2-Steuer direkt "erlitten" haben. Vielleicht ist die Sache aber auch so gemeint, dass alle Einnahmen daraus, also auch diejenigen, welche die Industrie direkt bezahlt hat, wieder ausgeteilt werden sollen. Dies wäre ein in der jüngeren Geschichte unerhörter Vorgang, nämlich tatsächlich eine Umverteilung von "der Wirtschaft" an "die Menschen". Die ökologische Lenkungswirkung wäre aber dann auch eher negativ.


Klarer Fall: Fossiler Energieverbrauch muss reduziert werden. Das "Energiegeld" kommt aber, gelinde gesagt, recht unausgegoren daher. Oder ist die plakative Herausstellung bei gleichzeitig kaum erklärter Mechanik volle Absicht? Soll die "Zuckerrübe" Energiegeld nur Stimmen fangen helfen - nach dem Motto "Annalena und Robert geben euch ja Geld zurück"?



5. Investitionsprogramm


Gehen wir zu einer weiteren konkreten Angabe: "Mit jährlichen Investitionen von 50 Milliarden Euro in die sozial-ökologische Transformation schaffen wir sichere Arbeitsplätze."


Ganz sicher kann man 50 Milliarden Euro in vielerlei, auch ökologisch sinnvolle, Projekte stecken. Als Habeck und Baerbock dieses Programm neulich im TV ankündigten, hatte ich die spontane Vorstellung, dass sich Annalena und Robert nach der Wahl in ihr Elektroauto setzen und die bundesdeutschen Betriebe abklappern. Der einen Bäckerei gewähren Sie einen Zuschuss für einen energie-sparsameren Backofen, weil der alte ja wirklich ein Gas- oder Stromfresser war. Der anderen Bäckerei aber nicht, weil sie ihre Bachwaren immer noch mit "Stinkediesel"-Lieferwagen ausfahren. Beim einen Betrieb so, beim anderen Betrieb wieder anders...


Kurz - der Teufel steckt auch hier wieder im Detail. Entweder wird das ganze ein bürokratischer Albtraum ("Antrag für sozial-ökologische Transformations-Unterstützungsmittel, 50-seitige Kurzfassung, nur gültig mit allen EU-Zertifikaten"), oder aber ein Spielplatz für Lobbyisten und politische "Anschlussverwendungs"-Sucher.


Wie gesagt: Gerne kann eine neue Bundesregierung 50 Milliarden für "Klimawandel-Bekämpfung" ausgeben. Wieso nicht einmal einen der Energiekonzerne einfach aufkaufen und in regionale Versorgungsbetriebe aufteilen, wie es vor gar nicht so langer Zeit der Standard in der BRD war? Oder wenn das nicht geht - gibt es da nicht diesen merkwürdigen Grundgesetzartikel, der sogar von "ENTEIGNUNG" spricht? Wäre denn die Abwehr der "Klimakatastrophe" nicht so eindeutig zum "Wohle der Allgemeinheit" (Artikel 14 GG), dass jedes Verfassungsgericht solche Enteigungen nur gutheissen könnte? Aber "Enteigung" ist für die modernen Grünen ebenso zum Unwort *1 geworden wie für CDU oder FDP.



6. "Zeichen setzen"


"Haltung zeigen", "sich bekennen", "Zeichen setzen" - das sind die wichtigsten Ecksteine in der öffentlichen oder besser ver-öffentlichten Diskussion in dieser Zeit. Natürlich setzt auch das Wahlprogramm der Grünen heftig "Zeichen", aber sozusagen auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen die Formeln für die ökologisch- oder "Klima"-bewegte Stammkundschaft rund um Wind- und Solarenergie, mitsamt ein wenig sozialem Zuckerguss ("Hartz-4 überwinden", "Grundsicherung [S.111], "reduzierter Mehrwertsteuersatz für pflanzliche Milchalternativen" [S.52]), zum anderen die "Catchphrases" aus dem Consulting-Sprech, die die wirklichen Bestimmer in diesem Lande sehen wollen: Transformation, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftsstandort, Agilität, Wachstum, Effizienz, Wettbewerb, Innovation, Investitionen.


Ins Auge springt bei einem "grünen" Wahlprogramm schon einmal die unbefangene Propagierung von Wachstum. Man kann sich zwar eine ökologisch verträgliche Wirtschaftsform theoretisch denken, die trotzdem noch - in Geldwerten ausgedrückt - Wachstum generiert. Aber ein klassisches Wachstum im materiellen Sinne - mehr produzieren, mehr verkaufen, mehr konsumieren, mehr wegwerfen - ist schon per se un-ökologisch und aus zwingenden realen Gründen nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten.


Aber die Grünen wollen noch mehr: Die Wettbewerbsfähigkeit soll gesteigert werden. Im Kapitalismus ist aber diejenige Firma oder dasjenige Land "wettbewerbsfähiger", die mehr und besser verkaufen als andere. Womit wir wieder beim materiellen Wachstum wären: Wenn VW jedes Jahr 5 oder 10% mehr Pkw produziert, dann ist das ein Zeichen von Wettbewerbsfähigkeit, noch dazu eines, welche den "deutschen Wirtschaftsstandort sichert" - aber ökologisch eine Katastrophe.


Wieso überhaupt wollen die Grünen an dieser Stelle plötzlich wieder, ganz national kleinkariert, den "Standort Deutschland" sichern, wo sie doch anderweitig so sehr damit beschäftigt sind, gleich ein "neues Europa" aufzubauen? Ja, wenn die Programmautoren MAKROSKOP lesen würden, dann wüssten sie vielleicht, dass Wettbewerb unter Unternehmen (unter gewissen Bedingungen) eine gute Sache sein kann, Wettbewerb unter Nationen aber auf jeden Fall schädlich ist, auch wenn er sich "nur wirtschaftlich" äussert. Aber die Grünen wollen gleich ganz (EU-)Europa in den Wettbewerbs-Kampf mit USA und China zwingen. Als "Sieger" dürfte die EU aus so einem Kampf freilich ohnehin nicht herauskommen.



7. Das eigentliche Ziel von Politik ?


Elegant in einem Nebensatz versteckt definieren die Grünen auf Seite 58 das "eigentliche Ziel von Politik" gänzlich neu: "klimagerechte[r] Wohlstand".


Was aber soll "klimagerecht" eigentlich sein? Offenbar auch so ein Orakelwort wie "europäische Idee" oder "westliche Wertegemeinschaft", die gut klingen (sollen), aber in die sich jeder hineindenken kann, was er will.


Gerechtigkeit hat ja einen ausgeprägten Aushandlungscharakter, schon bei so banalen Fragestellungen wie "wer kriegt wieviele Kuchenstücke?" Unter Menschen gibt es darüber manchmal Streitigkeiten, die in ernsteren Fällen vor Gericht landen. Im Idealfall wird dann das Gericht eine (möglichst) "gerechte" Lösung finden, ob es nun um Hundegebell am Abend oder Schadstoff-Ausstoss einer Fabrik geht. Wie aber soll "das Klima" seine Vorstellungen von Gerechtigkeit kundtun? Offenbar bedarf es da eines Mittlers, der die Interessen "des Klimas" vertritt. Und augenscheinlich, so kann man es aus dem Program herauslesen, empfinden sich die Grünen ganz selbstverständlich als der "Anwalt des Klimas".


Was aber, wenn sich z.B. die Klimaaktivisten im Amazonasgebiet auch als "Anwalt des Klimas" verstehen, aber ganz andere Erfordernisse für sinnvollen Klimaschutz sehen als nun ausgerechnet die deutschen "Grünen"? Wenn man dort in Brasilien deutscher "Wettbewerbsfähigkeit" aus guten Gründen skeptisch gegenüber steht? Weil man z.B. gerne eine eigene Windturbinenproduktion aufziehen möchte, gegenüber den deutschen "big playern" aber nicht bestehen kann? Denen die volldigitalisierte Effizienz der deutschen "grünen" Landwirtschaft unheimlich sein könnte?


Auch hier kann ich den Grünen nicht folgen. Das "eigentliche Ziel von Politik" soll also Wohlstand in der Sonderform "klimagerecht" sein, in der Auslegung des jeweiligen Grünen Wahlprogramms? Ich hätte eigentlich gedacht, dass das Wohlergehen der Bürger im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen sollte. Eine ganz gute Zusammenfassung liefert dazu auch der Amtseid, den Bundeskanzler oder -in ablegen müssen: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe." *2



8. Scharfmacher am Werk


Kommen wir nochmal zum Satz auf Seite 219 des Programms: "Wir setzen auf ehrlichen Interessenausgleich, auf eine feministische Außenpolitik, die Achtung der Rechte marginalisierter Gruppen, auf Zusammenarbeit und Rechtsstaatlichkeit, auf Gewaltfreiheit und koordinierte Krisenprävention und regelbasierte sowie vorrangig zivile Konfliktbearbeitung in einer eng vernetzten Welt." Der Satz ist sowohl lachhaft als auch furchteinflössend.


Lachhaft, weil eine "feministische Außenpolitik" sich wohl kaum definieren denn ausüben lässt. Furchteinflössend, weil mit dem kleinen Wörtchen "vorrangig" die wenige Wörter vorher postulierte Gewaltfreiheit bei der "Konfliktbearbeitung" faktisch aufgehoben wird. Es soll also auch militärisch an Konflikte herangegangen werden, und wie herrlich das funktioniert, erleben wir ja gerade in Afghanistan. Ein bisschen wie Fremdkörper stehen in diesem Satz die Ausdrücke "marginalisierte Gruppen" und "regelbasiert" nebeneinander. Das eine stammt aus dem Vokabular der "woken" Sprachumdeuter, das andere ist regelmässiger Bestandteil der Verlaubarungen der "Transatlantiker". An beiden Gruppen herrscht bei den Grünen kein Mangel, hier in diesem Satz haben sie zusammengefunden.


Soll man die "nebenrangige" militärische Konfliktbearbeitung (wohlgemerkt: nicht Konfliktlösung!) als Ausdruck einer neuen "Realpolitik" seitens der Grünen nehmen, sozusagen im Sinne des Wortes von de Gaulle ""Staaten pflegen keine Freundschaften, Staaten haben Interessen"? Allerdings wissen die Grünen scheinbar garnicht, welche bzw. wessen Interessen die BRD künftig vertreten soll. Während sie einerseits den "Wirtschaftsstandort Deutschland" sichern wollen, soll EU-Europa "auf de[n] Weg zur föderalen Europäischen Republik"(S.212) gebracht werden, während gleichfalls der "NATO ..., die als Staatenbündnis einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegenwirkt"(S.253), Nibelungentreue geschworen wird.


Jedenfalls sind zahlreiche Grünen-Politiker im letzten Jahrzehnt zu den herausragendsten Scharfmachern geworden, ob es nun um den Syrien-Konflikt oder Afghanistan oder die Ukraine oder Nordstream2 ging. Und neben Russland wird neuerdings auch kräftig am Feindbild China poliert, auch im Wahlprogramm: "China ist Europas Wettbewerber, Partner, strategischer Rivale."(S.228). Deswegen wird die BRD natürlich auch im Indo-Pazifik eingreifen müssen (S.229) und tut es ja auch schon mittels der guten, alten Kanonenbootpolitik (Fregatte Bayern).



9. Ökonomische Orthodoxie


Eine Interviewfrage an Frau Baerbock hat kürzlich Tina Hassel von der ARD wie folgt eingeleitet: "Die kommende Regierung könnte die letzte sein, in der die Klimakatastrophe überhaupt noch abzumildern ist." Der Satz suggeriert - zu Recht oder nicht - eine unbedingte Notwendigkeit zu raschestem Handeln, ja geradezu einen Notstand. Frau Baerbock nimmt die Vorlage dankbar auf, um ihre Standardfloskeln zu "Sorge um die Kinder" und "Erneuerung des Landes" abzuspulen *3.


In so einer Lage sollte der Staat doch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingreifen, also auch monetär alles "an die Klimafront" werfen. Dem steht jedoch die auch von den Grünen ins Grundgesetz gehievte, sogenannte "Schuldenbremse" entgegen. Höchste Zeit also, dieselbe abzuschaffen, sollte man meinen *4. In Ihrem Wahlprogramm jedoch widmen die Grünen ihr eine knappe halbe Seite, und der Kernsatz ist wie folgt: "Bei konsumtiven Ausgaben bleibt es bei den derzeitigen strikten Regelungen; bei Investitionen, die neues öffentliches Vermögen schaffen, erlauben wir eine begrenzte Kreditaufnahme in Höhe der netto-Investitionen."(S.90.-91). Aus dem donnernden Grünen Löwen wird an dieser Stelle ein Schosshündchen, welches dem heiligen Gral der Neoliberalen (den Staat als Wirtschaftssubjekt kleinhalten) lieber nicht zu nahe treten will. Und zur Erinnerung: Zu den nach wie vor einzuschränkenden "konsumtiven Ausgaben" werden üblicherweise auch die Gehälter im öffentlichen Dienst gerechnet. Bildlich gesprochen wollen die Grünen also mit dem lautesten und auffälligsten Feuerwehrwagen an den Brandherd fahren, aber die Fahrer und Brandbekämpfer wollen sie lieber nicht bezahlen. Und den Lösch-Schaum, der ja auch zu den "konsumtiven Ausgaben" zählt, lassen sie aus lauter Angst vor dem Ruch finanzieller "Verantwortungslosigkeit" lieber auch weg. "Klotzen für's Klima" sähe anders aus, so reduziert sich das aufs altgewohnte Kleckern.



10. Der Werkzeugkasten ist leer


Was hat unsere bisherige Betrachtung ergeben? Trotz der bombastischen Ankündigungen findet sich im Wahlprogramm-Werkzeugkasten (um das Bild aus Kapitel 2 noch einmal zu bemühen) nicht viel mehr als eine Ansammlung von Bindfäden und verbogenen Schraubendrehern, ganz klar zuwenig, um den ökologischen Karren aus dem Dreck zu ziehen. Am gewichtigsten ist die offensichtlich fehlende Erkenntnis, dass die versprochene "Transformation" ohne massive, eigenverantwortliche Investitionen des Staates nicht funktionieren kann. Auch fehlt jeder Hinweis darauf, dass eben auch die Eigentumsverhältnisse nicht unangetastet bleiben könnten, denn natürlich macht es einen Unterschied, ob eine Konzernzentrale in den USA *5 über z.B. Raffinerien oder Öl-Pipelines in der BRD entscheidet, oder aber eine durch z.B. Antikartell-Gesetzgebung entflochtene, regionale Einheit.



11. Der lange Marsch


Die Chinesen nennen ihre grössten Raketen "Langer Marsch" in Erinnerung an die verlust- und entbehrungsreichen Feldzüge in den 1930er Jahren, die aus dem unbekannten Dorf-Revolutionär Mao Zedong schliesslich 1949 den "Grossen Vorsitzenden" und Gründer der Volksrepublik China machten. Auch die Mitglieder der Grünen haben seit den 1980er Jahren einen langen Marsch absolviert. Dabei haben sie wohl ein wenig die BRD verändert, aber haben sich offensichtlichlich selbst am meisten umgestaltet. Aus der Friedenspartei, deren Mitglieder zahlreich die Protestzüge von Mutlangen oder Bonn bevölkerten, sind Kriegsbefürworter geworden, die gerne nach "robusten Mandaten" (=Waffeneinsatz) für die Bundeswehr rufen. Die grünen Anti-AKW-Demonstranten, die richtig die Einflusstätigkeit eines atom-industriellen Komplexes beim in den 1960ern und 1970ern erfolgten Kernenergieausbau sahen, scheinen verschwunden zu sein - stattdessen wird nun inbrünstig von der "Versöhnung von Ökologie und Ökonomie" gesprochen.


Das ist zum einen sicher der neoliberalen Propaganda der letzten drei Jahrzehnte zuzuschreiben, die das Denken sehr vieler Menschen in eine ökonomistische Richtung verbogen hat. Ohne "Wachstum", "Effizienz" und "Wettbewerb" können sich eben auch die Grünen die Welt garnicht mehr vorstellen. Insbesondere der auch auf internationale bzw. zwischenstaatliche Beziehungen angewandte Wettbewerbsgedanke wird aber eine möglichst weltweite Verbreitung ökologischen Wirtschaftens verhindern. Dass die grünen Spitzen-Politiker Freund wie Feind *6 am liebsten mit Sanktionen überziehen, wird deren Bereitschaft, die grünen Ratschläge umzusetzen, sicherlich nicht befördern.


Man darf jedoch davon ausgehen, dass grosse Teile der grünen "Basis" und der grünen Wähler die Ideale der Gründungszeit schon noch im Blick haben. Gerade der Schwenk zur Kriegspartei ist ja von der damaligen Parteiführung (Joschka Fischer und Co.) durchaus gegen merklichen Basis-Widerstand durchgezogen worden. Was hat die grüne "Elite" so verändert?


Der normale Nachrichtenleser muss bei der Mainstream-Berichterstattung über die diversen Geheimdienst-Aktionen der letzten Jahre und Jahrzehnte den Eindruck gewinnen, dass dies alles unverbundene Einzel-Aktionen seien, die 'mal mehr, 'mal weniger "aus dem Ruder laufen". Das unterschätzt aber die Fähigkeit etwa der CIA, sehr langfristig und strategisch zu denken und zu handeln. So berichtete schon 1977 der durch die "Watergate"-Berichterstattung bekanntgewordene Journalist Carl Bernstein über ein schon seit Jahrzehnten laufendes Programm zur Anwerbung von Journalisten für Zwecke der CIA: http://www.carlbernstein.com/magazine_cia_and_media.php

Auch wenn solche Aktionen vermutlich immer weniger direkt aus CIA-Mitteln finanziert und orchestriert werden *7, kann an den diesbezüglichen Absichten des militärisch-industriellen-geheimdienstlichen Komplexes der USA nicht gezweifelt werden. Und in den Augen der CIA hat die Bundesrepublik genausowenig Anspruch auf eine eigenständige Innen- und Aussenpolitik wie irgendeine südamerikanische Bananenrepublik. Da kann es schon gerechtfertigt sein, ein paar Dollars mehr zur Unterstützung der "richtigen" Personen eben auch langfristig locker zu machen. Wie so etwas gehen kann (könnte), kann man in Robert Harris' Roman "Ghost" (deutsch "Der Ghostwriter") nachlesen.


Die These, dass grünes Spitzen-Personal wie Özdemir, Göring-Eckardt, Nouripour, Habeck oder eben Baerbock Einflussagenten der USA seien, muss mangels schlagenden Belegen vorläufig im Ordner "unbewiesen" abgelegt werden. Der Lebenslauf gerade der Frau Baerbock mit der Aufnahme in das "Young Global Leaders"-Programm des WEF *8 würde aber schon sehr gut dazu passen.


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Der Weg der Grünen war also lang, und herausgekommen sind gründlich "neoliberal kompatible" Parteipolitiker. Wie schon andere festgestellt haben, sind die Grünen in ihrer aktuellen Fom die grösste Mogelpackung der deutschen Parteienlandschaft. Oder mit den Worten von Ronald Reagan formuliert: Die Grüne Partei ist nicht Teil der Lösung, sondern ist selbst ein gehöriger Teil des Problems geworden. Angesichts des alarmistischen Tons, der momentan in den Mainstream-Medien bezüglich des Klimawandels angeschlagen wird, sind wohl viele Wähler bereit, den Grünen sogar die Kriegspolitik durchgehen zu lassen: "Jetzt noch schnell die Grünen wählen, bevor übermorgen halb Deutschland von Ahrtal-Fluten heimgesucht wird!" Das überschätzt allerdings nicht nur den Einfluss deutscher Politiker auf "den Klimawandel" gewaltig, sondern wäre angesichts des untauglichen programmlichen Werkzeugkastens ohnehin eine auf Sand gebaute Hoffnung.


(August 2021)


*1 Trotzdem taucht das Wort "Enteigung" genau einmal im Wahlprogramm auf, allerdings sozusagen im umgekehrten Sinne: "Den durch den Braunkohletagebau Garzweiler von Enteigung und Vertreibung bedrohten Menschen muss das Land Nordrhein-Westfalen endlich Planungs- und Rechtssicherheit für Erhalt und Zukunft ihrer Dörfer geben." (S.21)

*2 Die Fettungen sind, wie auch schon in Absatz 3, von mir gesetzt. Bezgl. des Amtseides sind die gefetteten Begriffe diejenigen, die Anforderungen beschreiben, denen m.E. die letzten Amtsinhaber (seit 1982?) leider nicht mehr entsprochen haben. Interessant übrigens, dass die Atheistin Merkel die optionale Schlussformel "So wahr mir Gott helfe" immer mitgesprochen hat. Mimikri?

*3 Der weitere Wortlaut der Frage brachte der ARD-Frau harsche Online-Kritik aus dem grünen Umfeld ein, wie man z.B. hier erfährt.

*4 Die BRD kam ja in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens ganz gut ohne Schuldenbremse aus. Und jenseits der EU hat auch kaum ein Land solch einen Unfug in die Verfassung aufgnommen.

*5 Wobei in der globalisierten Unternehmenswelt der konkrete Firmensitz auch schon unwichtig geworden ist. So verfolgt Bayer-Monsanto trotz des Firmensitzes in Leverkusen "natürlich" eine globale und in weiten Teilen eben umweltfeindliche Politik.

*6 Dass die Grünen die "Feindstaaten" Russland und China mit Sanktionen überziehen wollen, überrascht nicht so sehr. Wenn aber auch die EU-Unions-"Bruderländer" Polen und Ungarn sanktioniert und auf allen medialen Kanälen angegriffen werden, wäre mir als Pole oder Ungar der grüne Kreuzzug schon herzlich zuwider.

*7 Aus den "regime change"-Operationen etwa in der Ukraine sind andere Organisationen wie NED (National Endowment for Democracy) oder USAID (United States Agency for International Development) als Geldgeber bekannt. Die mit dem Ausspruch "Fuck-the-EU" bekannt geworden US-Diplomatin Victoria Nuland bezifferte ja das US-"Engagement" in der Ukraine auf mehrere Milliarden US-Dollar.

*8 WEF = World Economic Forum. Dessen bekannteste Aktivität ist das gleichnamige Treffen im schweizerischen Davos. Als "strategische Partner" führt das WEF die Creme der internationalen Konzerne auf, von Allianz und Amazon über Pfizer und PwC zur Zurich Insurance Group (nachzulesen auf der Website des WEF: https://www.weforum.org/partners#A )


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