Bälle aus dem Spiel nehmen - und dann?



1. Pool-Billard-Visualisierung

Im Pool-Billard gibt es fünfzehn, meist farbige und nummerierte sogenannte "Objektbälle", und einen, meist weissen "Spielball"; dieser wird von den Spielern mit dem Queue angestossen, um eben die Objektbälle in die sogenannten Taschen am Rand des Tisches zu befördern. Mit den verschiedenen Regeln, die es dafür gibt, wollen wir uns hier nicht beschäftigen, ebensowenig wie mit den Taschen. Nach dem ersten Anstoss sieht es auf dem Spielfeld meist so ähnlich wie hier aus:




Nach einer gewissen Spielzeit sind durch erfolgreiche Queuestösse mehr oder minder viele "Objektbälle" von der Spielfläche verschwunden, und es sieht beispielsweise so aus:




Selbst wer noch nie Pool gespielt hat, erkennt sofort, dass im ersten Bild der weisse Spielball in fast jede beliebige Richtung angestossen werden kann, und dabei trotzdem fast immer mindestens einen der dunklen Bälle berühren wird. Im zweiten Bild, wo nur noch zwei Objektbälle vorhanden sind, ist es offensichtlich viel schwerer, mit einem ungezielten Queue-Stoss einen Objektball zu berühren. Durch das drastische Wegnehmen von Bällen ist also offensichtlich die Wahrscheinlichkeit von Berührungen ebenfalls noch drastischer gesunken - um wieviel, überlasse ich geometrisch und mathematisch begabteren Personen.



2. Lockdown = "Bälle aus dem Spiel nehmen"

Natürlich sollen diese "Billard"-Bilder die aktuelle Lage in der Bekämpfung der Covid-19-Epidemie verdeutlichen: Der weisse Spielball steht für eine bzw. die Personen, die infektiös sind, und die dunklen stehen für die anderen Personen, die durch Kontakt infiziert werden können. Und während das erste Bild die Situation vor dem sogenannten "Lockdown" anschaulich machen soll, steht das zweite Bild für die Situation im Lockdown. Man hat also, indem man "Bälle aus dem Spiel genommen" hat, die Weiterverbreitung der Erkrankung verlangsamt. Und wie man an den Bildern hoffentlich erkennt, muss das einfach so sein.

Das Resultat im Epidemiologendeutsch ist die Senkung der "Basisreproduktionszahl" R0 von Werten über 1 (also etwa 2,3 bis 3,3) auf Werte deutlich unter 1. Mit derselben Visualisierung wird auch ersichtlich, warum ein (weitgehendes) Abriegeln der Grenzen ganz wichtig für die Wirksamkeit der Lockdown-Massnahmen ist. Das folgende Bild symbolisiert zwei Länder, die sich in verschiedenen Stadien des Lockdowns bzw. der R0-Zahl befinden:




Wird nun doch die schwarze Grenzlinie entfernt, sieht es so aus:




Die Wirkung des harten Lockdowns im "oberen" Land würde dann zum grossen Teil dadurch zunichte gemacht, dass das zweite Land wieder weitaus mehr Objekte für die weissen Spielbälle (die Infektiösen) bereitstellt.

Wozu diese Bildermalerei? Weil es doch wieder, gerade mit Verweis auf die in Deutschland vergleichsweise geringen Todesfallzahlen, Leute gibt, die die Effizienz der Lockdown-Massnahmen prinzipiell bezweifeln. Dafür gibt es jedoch keinen Anlass - man muss in diesem Falle nicht einfach den Experten glauben, sondern kann es anhand der Visualisierungen auch nachvollziehen. Somit ist m.E. unbezweifelbar, dass das "Mittel" wirkt. Über die "Nebenwirkungen" wird freilich noch zu reden sein.



3. Gedankenexperimente

Es ist eine interessante Spekulation, dass ein "totaler Lockdown", der tatsächlich ausnahmslos alle derzeitigen Bewohner der BRD in Quarantäne gesetzt hätte, auch zur kompletten Auslöschung des Virus hätte führen können. Ausreichend lang angesetzt (4 oder 5 Wochen?), wären danach alle bislang nicht Infizierten gesund geblieben, während sich die Infizierten in diejenigen aufgeteilt hätten, die nach symptomschwacher Erkrankung die Quarantäne immunisiert verlassen hätten, und einen Rest, der in klinische Pflege gekommen wäre. Diese wiederum wären entweder auch gesundet oder verstorben, um am Ende wäre das Land ohne Virenträger dagestanden.

Nur ist eine so umfassende Quarantänisierung in unseren arbeitsteiligen Gesellschaften garnicht mehr möglich, und entsprechend haben die meisten (alle?) Regierungen die Basisdienste mehr oder minder detailliert vom Lockdown ausgenommen, um die Versorgung der Bevölkerungen sicherzustellen.

Eine weitere Überlegung betrifft die vielzitierte "Herdenimmunität". Letzendlich bezweckt diese eigentlich das gleiche wie der im zweiten Bild visualisierte "Lockdown": Hier werden die Objektbälle zwar nicht "aus dem Spiel genommen", aber die Anzahl der Infizierbaren wird durch Immunisierung drastisch verringert, so dass für die infektiösen Spielbälle ebenso kaum noch ansteckbare "Ziele" übrigbleiben.

Wenn aber bislang kein Impfstoff gegen Covid-19 vorliegt, man aber gleichzeitig die Kapazität der Intensivpflegebetten (um die es ja beim "die Kurve abflachen" oder "flatten the curve" geht) nicht überschreiten will, dauert es sehr lang, bis eine ausreichende Anzahl von Personen immun sind. Schätzungen gehen für die BRD von mindestens einem Jahr oder mehr aus, bevor so ein hinreichender Zustand von "Herdenimmunität" gegeben wäre.



4. Weltweite Logik

Da die biologischen Tatsachen und die Logik, die hinter den Lockdown-Massnahmen steht, überall gleich sind, haben in den letzten Wochen die Mehrzahl aller Regierungen zumindest im Ziel einheitliche Massnahmen beschlossen: Überall geht es darum, "Bälle aus dem Spiel zu nehmen" - egal ob in Buenos Aires oder Berlin, in Montreal oder Moskau, in Paris oder Peschawar.

Dass da im Detail verschiedene Methoden und Regeln angewandt werden, sollte uns dabei nicht überraschen. Die Regionen sind ja auch gerade im Hinblick auf epidemische Verbreitungsgefahren sehr unterschiedlich, New York City sicherlich anders zu behandeln als ein Dorf im Ural.



5. Aus dem Lockdown in die "neue Normalität"

Die Lockdown-Massnahmen haben unübersehbar aber auch schwere Nebenwirkungen, die nun immer zahlreicher von den verschiedensten Individuen und Gruppen betont werden. Ganz vorne dabei der wirtschaftliche Einbruch, der - je länger er dauert - umso schwerer zu "reparieren" sein wird. Und dazu kommen alle möglichen weiteren Effekte, ob nun auf die Psyche, die Gesundheit chronisch Kranker und so fort. Eine Therapie, die den Patienten letztendlich umbringt, kann sicher nicht das Ziel verantwortungsvoller Politik sein.

Es geht also um ein "zurück" in eine vermutlich doch etwas anders gestaltete, "neue Normalität". In unserem Billard-Beispiel ist das scheinbar einfach getan, man gibt einfach schrittweise wieder "mehr Bälle ins Spiel":




In der Realität ist das natürlich nicht so einfach: Würde man bei unveränderten Bedingungen einfach nach einer Weile die "ins Spiel gebrachten Bälle" wieder auf den Vor-Krisen-Wert bringen, würde gleichzeitig auch wieder der R0-Kennwert der Epidemiologen auf Krisen-Werte ansteigen und letztendlich die Kapazität des Gesundheitssystems sprengen.

Der Lockdown hat allerdings "Zeit gekauft", indem er uns ermöglicht, in der Übergangsphase und auch danach anders vorzugehen:

- erweiterte hygienische Massnahmen, die unsere "neue Normalität" u.a. mit Gesichtsmasken, Plexi-Abschirmungen und Desinfektionsspendern ausstaffieren wird,

- hoffentlich eingespieltere Therapieansätze für die doch Erkrankenden, evt. auch überprüfte Medikamentationen,

- ausgebaute Bettenkapazitäten inklusive intensivmedizinischer Stationen,

- noch umfangreicheres (und systematischeres?) Testen auf Covid-19-Infektion,

- Gesundheitsämter, die sich wieder der Nachverfolgung und Isolierung Angesteckter widmen können (bildlich sozusagen das Wegnehmen der weissen "Infektions"-Bälle),

- eventuell elektronische "Tracking"-Massnahmen *1,

- und schliesslich und hoffentlich möglichst bald ein Impfstoff gegen Covid-19.

Vielleicht tut uns das Virus auch den Gefallen, dass es in weniger gefährliche Varianten mutiert, nur kann man darauf leider nicht bauen. Das A und O aller Lockdown-Lockerungen muss aber die intensive kontinuierliche Beobachtung der Kennzahlen sein, insbesondere des R0-Wertes.



6. "Alle Lobbyisten sind schon da"

Die Lockdown-Massnahmen scheinen zumindest hier in der BRD von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert worden zu sein, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass ja scheinbar "alle gleich" betroffen sind *2. Der Weg zurück wird sicherlich wesentlich schwieriger umzusetzen sein, wie man ja an den Diskussionen nach der Bund-Länder-Erklärung vom 15.04. erkennen kann. Der Besitzer des Tattoo-Shops ärgert sich, weil sein Nachbar, der Friseur, ab Mai wieder aufmachen darf, er aber nicht. Jemand mit 810qm-Laden versteht nicht, warum sein Mitbewerber mit 790qm-Laden öffnen darf, er aber nicht, etc.pp.

Wichtig für uns alle wird sein, zu erkennen, dass alle "Lockerungs"-Massnahmen ungerecht sein müssen, weil die Politik vor der Aufgabe steht, die Bevölkerung nur in gewissen Teilmengen wieder "freizugeben". Egal, wie man nun irgendeine solche Teilmenge definiert - es wird immer mindestens eine andere Teilmenge geben, die sich dadurch ungerecht behandelt fühlt. Das ist also ein letzlich unvermeidliches Dilemma.

Anders sieht es mit inhaltlich zweifelhaften Entscheidungen aus. Der Gedanke, die Schulen möglichst bald zu öffnen, hat mindestens einen guten Grund, aber auch mindestens einen eher bedenklichen Grund. Der gute Grund ist der, dass nach allen bisherigen Erfahrungen Kinder und Jugendliche am wenigsten gefährdet sind. Der bedenklichere Grund dürfte sein, dass man die Elternteile von der Betreuungsaufgabe freistellen und damit die Industrie von Friktionen entlasten möchte. Bedenklich ist das auch deshalb, weil zwar die Schüler jung sind, die Lehrer aber durchaus nicht durchgehend, damit also mehr oder minder gefährdet. Auch wäre mir unklar, wie man ein oder zwei Dutzend ohnehin nicht zum Stillsitzen neigende Kinder zur Einhaltung der Abstandsregeln und dem regelmässigen Handwaschritual (an einem einzigen Waschbecken?) bringen will - aber vielleicht kenne ich auch die modernen Schulen und die modernen Schüler nicht ausreichend.

Da sollte man m.E. ehrlicher sein und die bisherigen Klassen in Fördergruppen umwidmen, die nur noch diejenigen Kinder aufnehmen, die beispielsweise keine gute "Homeoffice"-Ausstattung haben. Und das aktuelle und folgende Schuljahr könnte man offiziell zu "Kurzschuljahren" erklären *3, über deren Bewertung z.B. für Abschlüsse man sich im nächsten Jahr Gedanken machen kann.

Apropos Schule: Dort sang man früher "Alle Vögel sind schon da". In Berlin müsste es aber heissen "Alle Lobbyisten sind schon da", und man darf davon ausgehen, dass sie an den ihnen bestens bekannten "Schaltstellen der Macht" all' ihren Einfluss geltend machen, um für ihre jeweilige Gruppe die besten Bedingungen "herauszuschlagen". So dürfte die Entscheidung, Autohäuser unabhängig von ihrer Grösse wieder öffnen zu lassen, schon etwas mit der Automobil-Lobby zu tun haben.

Auch aktuelle Vorschläge zeigen, dass die Lobbyisten in der Krise nicht still sind: So fordert der Handelsverband Deutschland u.a. eine generelle Ladenöffnungserlaubnis für Sonntage "ohne Auflagen und Beschränkungen". Dass erweiterte Ladenöffnungszeiten zu mehr Konsum führen würden, wird uns zwar schon seit den 1990er Jahren vorgebetet, hat sich aber noch nie bewahrheitet. Natürlich kaufen die Leute nicht mehr ein, wenn an einem weiteren Tag die Läden "auf" haben, sie kaufen höchstens woanders ein - also bei denen, die sich aufgrund grösserer Personaldecke das leisten können (also den "Grossen"), und bei den selbstausbeutenden Kleinstbetrieben, etwa den in Berlin so beliebten "Spätis".

Wenn sich der Verband wirklich Gedanken um die wirtschaftliche Zukunft aller seiner Mitglieder machen würde, wäre die Forderung nach "Kurzarbeitergeld 100%" ganz oben auf der Liste, damit die allgemeine Kaufkraft nicht sinkt. Sehr gute Vorschläge zur wirtschaftlichen Bewältigung der Krise gibt es auch auf MAKROSKOP, etwa diesen Text von Friederike Spiecker: "Die monetäre Brücke über den Corona-Abgrund".

Das hochtourige Lobbywesen birgt auch die Gefahr, dass sich in der Übergangsphase Behörden und Polizeien, aber auch Unternehmer und Bürger in einem immer unübersichtlicheren Sonderregelungs-Gestrüpp wiederfinden, weil jede Lobbygruppe ihr Privatsüppchen kochen will und an der richtigen Stelle unterbringt. An dieser Stelle, dem Widerstandsvermögen gegen kurzsichtige Lobbygruppen, wird sich das Format der aktuellen Politiker herausstellen. Ob da die Mitglieder des Merkel'schen Kabinetts beispielsweise an das Niveau der Brandt'schen oder Schmidt'schen Kabinette heranreichen?



(April 2020)




*1 Die allgemeine Begeisterung für Tracking-Apps kann ich nicht nachvollziehen, da doch der Missbrauch der auf diese Weise massenhaft erhobenen Daten eine allzu bekannte Gefahr ist.

*2 So gleich war es natürlich auch nicht, etwa für die plötzlich als "systemrelevant" erkannten Berufe, aber auch das wurde mehrheitlich akzeptiert.

*3 Solche Kurzschuljahre gab es auch in meiner Grundschulzeit wegen der damals umgesetzten Änderung des Schuljahresbeginns.



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