Wie man einen Putsch wegerklärt



1. Ein Präsident tritt zurück

Am 10. November erklärt der Präsident Boliviens, Evo Marales, vor Videokameras seinen Rücktritt. Kurz zuvor war ihm derselbe vom Armeechef und vom Chef der Polizei "nahegelegt" worden. Damit ist Bolivien plötzlich auch in Deutschland ein schlagzeilenträchtiges Thema geworden, obwohl dieses ferne Land dem Durchschnittsdeutschen vermutlich herzlich egal ist: Es ist schliesslich keines der EU-"Problemländer", über die wir uns ständig zu "kümmern" haben, damit sie auf dem rechten Pfad der Austerität bleiben, noch sind nennenswerte Migrantenzahlen aus der Andenrepublik zu verzeichnen. Noch nicht einmal ein VW-Werk gibt es dort...

Zwei Tage später erscheint auf ZEIT online ein Artikel von Michael Ebmeyer, der ganz apodiktisch "Es ist kein Putsch" betitelt ist. Da hat es also keine 48 Stunden gebraucht, bis diese grosse deutsche Zeitung das Ereignis endgültig, wie es heute so schön heisst, "eingeordnet" hat.

In den folgenden Tagen ist auch z.B. in der Tagesschau ganz ohne Anführungszeichen oder Einschränkung oder Erläuterung nur noch vom "Ex-Präsidenten" Morales die Rede, obwohl dieser zwischenzeitlich, von seinem mexikanischen Exil aus, verlautbart hat, dass er sich mindestens bis zum offiziellen Ende seiner dritten Amtszeit (also bis Januar 2020) als rechtmässiger Präsident betrachtet.



2. Was ist ein Putsch?

Zunächst als Vorrede: Ganz gewiss bin ich kein Lateinamerika- oder Bolivien-"Experte", und meine Kenntnisse zu Kontinent und Land gehen wohl nicht wesentlich über das eines durchschnittlichen deutschen Zeitungslesers hinaus *1. Was nun "wirklich" dort vorgeht und vorgegangen ist, kann ich - Tausende Kilometer entfernt - nicht beurteilen.

Trotzdem hat mich obengenannter Artikel nicht nur wegen des jeden Zweifel wegwischenden Titels verblüfft. Um nicht Opfer der "edit wars" *2 auf Wikipedia zu werden, habe ich mein "Volkslexikon" von 1973 zu Rate gezogen. Dies verweist unter dem Stichwort "Putsch" auf den heute leider nicht mehr so gebräuchlichen Begriff "Staatsstreich".

Dort ist dann definiert: "Staatsstreich, gewaltsame Beseitigung der Regierung durch eine polit. oder militär. einflussreiche Persönlichkeit od. Gruppe, häufig verbunden mit Ausschaltung der parlamentar. Körperschaften."

Zwar ist auf dem erwähnten Video vom 10.11. keine auf den Präsidenten gerichtete Waffe zu erkennen. Andererseits ist auch klar, dass, wenn der oberste Militär und der oberste Polizist des Landes einen Rücktritt "nahelegen", diese sich auf die Macht der von ihnen direkt befehligten bewaffneten Einheiten beziehen. Wäre der Rücktritt irgendwie "einvernehmlich" gewesen, wäre es ja auch vollkommen unnötig gewesen, ins mexikanische Exil zu gehen

In diesem Sinne kann der Vorgang in Bolivien gar nicht anders denn als Putsch bezeichnet werden. Herrn Ebmeyers forsche Formulierung "Es ist kein Putsch" ist also entweder glatte Lüge oder Wunschdenken.



3. Ein "guter" Putsch?

Eine andere Frage ist natürlich, ob man in gewissen Fällen einen Putsch am Ende nicht doch als positiv bewerten könnte. "Legalistisch" betrachtet, kann es natürlich keinen "guten Putsch" geben. Aber sind nicht Situationen denkbar, in denen gegenüber einem brutalen Tyrannen ein Putsch der Armee womöglich das letzte Mittel wäre, um grösseres Unheil zu vermeiden?

Es geht dann also um die Bewertung der Amtsführung des Präsidenten und möglicherweise um konkrete, erhebliche Vergehen. Was wird Evo Morales also vorgeworfen? Liess er, wie es gewisse mit der BRD "befreundete" Golfstaaten regelmässig tun, Dissidenten steinigen oder köpfen? Wurde auf seine Weisung hin auf demonstrierende Jugendliche mit scharfer Munition geschossen, wie es regelmässig an der Grenze zum Gaza-Streifen in Nahost der Fall ist? Oder hatte er sich die argentinische Militärjunta zum Vorbild genommen, deren Spezialität die "Entsorgung" von politischen Gefangenen durch Herauswerfen aus Flugzeugen aus mehreren Tausend Metern Höhe war?

Nichts dergleichen wurde ihm vorgeworfen. Kritisiert wurde ein zunehmend autoritärer Stil und fehlende Rücksichtnahme z.B. auf Naturschutzbelange. Insbesondere wurde kritisiert, dass er sich überhaupt für eine vierte Amtszeit aufstellen liess, denn die bolivianische Verfassung sieht dies tatsächlich nicht vor. Bolivien ist aber auch Unterzeichner der "American Convention on Human Rights", die das "Recht zu wählen und gewählt zu werden" proklamiert. Daraus folgerte der oberste bolivianische Gerichtshof, dass Begrenzungen der Zahl der Amtsperioden unzulässig seien - interessanterweise wurde also hier "supranationales Recht" über nationales Recht gestellt, ein Vorgang, der von allen unbedingten Anhängern von EU und EuGH eigentlich nur begrüsst werden könnte.



4. Wahlbetrug um 3% ?

Über alle diese Vorgänge gab und gibt es verschiedene Ansichten und Bewertungen, die sich üblicherweise in friedlichen Disputen oder Demonstrationen in der Öffentlichkeit des jeweiligen Landes darstellen (sollten). Der endgültige Richter über "richtig oder falsch" ist einer Demokratie natürlich das Wahlvolk, welches der einen oder anderen Partei oder der einen oder anderen Person schliesslich über die jeweiligen Stimmenanteile Vertrauen zuspricht oder aber entzieht.

Genau dazu hatte das bolivianische Volk (bzw. die bolivianischen Völker *3) ja in der Wahl vom 20.10. Gelegenheit, und die offiziellen Ergebnisse sind auch klar genug: Danach lag Evo Morales mit 47% weit vor dem Zweitplatzierten Carlos Mesa (36,5%), und der Drittplatzierte (ein Herr Chung) war mit 8,8% total abgeschlagen.

Trotzdem war unmittelbar nach der Wahl und insbesondere in den Tagen vor dem 10. November die Rede von Wahlbetrug, und es gab auch heftige Demonstrationen im Land wegen diesem Vorwurf. Herr Ebmeyer erklärt in seinem Artikel den Wahlbetrug gar als "wissenschaftlich bewiesen" und verweist auf einen Bericht eines bolivianischen "Teams aus IT-Experten". Zu den Quellen des Herrn Ebmeyer später mehr.

Aber setzen wir diesen "Wahlbetrug um 3%" einmal in unsere vertrauten bundesrepublikanischen Verhältnisse. Denn auch wir kennen aus vielen Bundes- und Landtagswahlen den Effekt, dass das von der Wahlbehörde *4 verkündete amtliche Endergebnis etwas von den letzten Hochrechnungen des Wahlabends abweicht. Bei uns sind die Verfahren, um eben aus Teilauszählungen auf das vermutliche Endergebnis hochzurechnen, so ausgefeilt, dass die Abweichungen meist nur Zehntel Prozentpunkte ausmachen. Trotzdem können diese Abweichungen dazu führen, dass in der gewählten Kammer schliesslich 1 oder 2 Sitze nicht an Partei A, sondern an Partei B gehen. Konkret kann es dann bei "knappen Resultaten" dazu führen, dass etwa eine am Wahlabend als sicher geltende Koalition dann doch nicht zustande kommt - was ja irgendwo auch Sinn der Übung ist, es soll ja auf "jede Stimme ankommen".

Stellen wir uns also vor, Frau Merkel hätte etwa bei der letzten Bundestagswahl aufgrund so einer Resultatsverschiebung eine ihr genehmere Koalition anstreben können - würden wir dann von Wahlbetrug reden? Fänden wir es dann ganz in Ordnung, wenn der Generalinspekteur der Bundeswehr der Kanzlerin den Rücktritt "nahelegen" würde - so wie es uns Herr Ebmeyer als ganz normal hinstellen will? Natürlich nicht - sondern wir würden je nach Schwere der Vorwürfe entweder eine Nachzählung in "umstrittenen" Wahlkreisen oder allerhöchstens eine Neuwahl fordern. Genau diesem - einer Neuwahl - hatte Evo Morales schliesslich nach möglicherweise zu langem Zögern zugestimmt. Wieso also der Putsch?

Interessanterweise ist die Prozentzahl von 44%, die Morales sozusagen "vor dem Wahlbetrug" erreicht hatte, wenig umstritten. Ist es glaubwürdig, dass der amtierende Präsident, allein um der Unannehmlichkeit einer Stichwahl aus dem Weg zu gehen, dann 3% Stimmen hinzugefälscht haben soll? Und das, während die Wahlbeobachter von der OAS *5 sozusagen noch in den Wahllokalen sitzen? Und - um noch einmal den Bogen zu unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu schlagen - wie würde wohl eine Amtsinhaberin Merkel abschneiden, wenn die Kanzlerschaft per Direktwahl entschieden würde? Ich bezweifle, dass sie noch auf 44% kommen würde. Nach manchen Umfragen soll mittlerweile eine gewisse Frau Wagenknecht sogar beliebter sein als Frau Merkel... *6.



5. Der Experte der "ZEIT"

Aus Duktus und Entschiedenheit der Aussagen des Herrn Ebmeyer in diesem ZEIT-Artikel möchte man gerne schliessen, dass wir es mit einem Experten für Bolivien und/oder Lateinamerika zu tun haben. Einen gewichtigen Vorteil hat er auf jeden Fall, denn er versteht Spanisch und verweist dann auch in seinem Artikel mehrfach auf spanischsprachige Quellen. Da ich - wie vermutlich viele Leser der ZEIT - Spanisch nicht beherrsche, kann ich mir kein Urteil darüber bilden, ob z.B. die mehrfach verlinkte Zeitung "El Deber" eine seriöse Quelle oder eher Kampfblatt einer spezifischen politischen Gruppierung ist. Auch die als "Beweis" verlinkte Studie eines "Ingeniero Edgar Villegas Alvarado" konnte ich mangels Sprachkenntnissen nicht verstehen. Ob allerdings Herr Ebmeyer wirklich in der Kürze der Zeit (wir erinnern uns - 2 Tage nach dem erzwungenen Rücktritt erscheint sein Artikel) wirklich alle 190 Seiten dieses Reports studiert hat, wage ich zu bezweifeln. Was ihm allerdings genauso wie mir hätte auffallen können, ist, dass da unter über 20 der schönen Diagramme und Tabellen der Satz "Fuente: elaboración propia" steht. Und der bedeutet eindeutig: "Quelle: eigene Ausarbeitung". Mit eigenen Ausarbeitungen kann man sicher so manches "beweisen", und wem dabei der alte Spruch "traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast" in den Sinn kommt, liegt vielleicht nicht verkehrt.

Um wiederum nicht Opfer irgendwelcher Wikipedia-Streitigkeiten zu werden, habe ich Herrn Ebmeyers eigene Webpäsenz (https://michaelebmeyer.wordpress.com/) aufgesucht. Aus der Tatsache, dass er einen Reiseführer zu Katalonien verfasst hat, kann man eine gewisse Expertise zu dieser Region oder Spanien herauslesen. Lateinamerika oder gar Bolivien scheint aber, wenn man seiner eigenen Artikelauflistung folgt, erst seit Januar oder Mai dieses Jahres ein Thema für ihn zu sein. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Herr Ebmeyer irgendwann vor Ort in Bolivien (oder Venezuela) war. Vermutlich hat er seinen Text ebenso wie ich in der Sicherheit seiner warmen Schreibstube verfasst - ohne den lästigen Geruch von Tränengas oder brennenden Häusern zu schmecken. Ist er am Ende gar kein grösserer Experte als irgendein durchschnittlicher Zeitungsleser? Allerdings: Klare Meinungen hat er, so z.B. über die katalonischen Unabhängigkeitsbestrebungen, die "im Kern nichts als Masochismus" seien, über Evo Morales, der "in der Oligarchenkapsel gefangen" sei, und schliesslich über die eigenen Leser, die - wenn sie ihm partout nicht zustimmen wollen, "Neunmalkuge … autoritäre Pseudolinke" mit "kryptorassistischen Dogmen" seien *7.



6. "Vor-Ort sein"

In unserer so "durch-globalisierten" Welt mit ihren permanent die Kontinente bereisenden "Consultants", aber auch sehr idealistischen "Entwicklungshelfern" aller Art ist es durchaus möglich, solche Ansichten wie die von Herrn Ebmeyer von persönlichen Bekannten aus der Region mitgeteilt zu bekommen, ja vielleicht wurde man sogar erst durch diese auf den ZEIT-online-Artikel aufmerksam gemacht. "Die müssen es doch wissen, die sind doch vor Ort..." ist die spontane Reaktion.

Nun ist "Zeitgenossenschaft", wie es rückblickend die Historiker nennen, durchaus ein wertvolles Gut. Insbesondere lässt sich aus zahlreichen persönlichen Einlassungen dann ein Mosaik der Zeitströmungen erschliessen. Wie war die Stimmung, als Hitler zum Kanzler gewählt wurde, wie war sie 6 Jahre später, als der Weltkrieg begann, und so fort. Nur zur Beurteilung konkreter historischer Streitfälle taugen sie nur dann, wenn die betreffende Person wirklich "Tatzeuge" war.

Nehmen wir wieder ein konkretes Beispiel aus Deutschland: Vermutlich waren die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeilen ebenso wie ich Zeitgenossen des Geschehens in der BRD in den Jahren 2000 bis 2007. In dieser Zeit hätte es durchaus sein können, dass man auf irgendeinem Autobahn-Rastplatz neben einem Wohnmobil zu stehen gekommen wäre. Und in diesem Wohnmobil hätten die später als "NSU" bekannten Attentäter Mundlos und Böhnhardt (und Tschäpe?) vielleicht darüber diskutiert, ob sie für ihr nächstes Attentat wieder die bekannte "Ceska"-Pistole oder besser ein anderes Objekt aus ihrer umfangreichen Waffensammlung verwenden sollten. Nicht mehr als ein paar Millimeter Wohnmobilwand hätten Sie oder mich dann davon getrennt, schon frühzeitig "die Wahrheit" über die NSU-Truppe zu erfahren!

Die Wahrheit, die sich freilich auch über 10 Jahre später nur bruchstückhaft präsentiert, war wohl, dass die NSU-Mannen 7 Jahre lang kreuz und quer durch die Republik reisen konnten, um einzelne Opfer quasi "hinzurichten", deren gemeinsames Kennzeichen die "migrantische Herkunft" (Türkei, Iran, Griechenland...) war. Hätten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, damals geglaubt, dass so etwas in der BRD möglich wäre? Hätten Sie geglaubt, dass zahlreiche rechtsextreme Personen aus dem näheren und weiteren Umfeld des "NSU" jahrelang mit Tausenden Euro (zusammengenommen Hunderttausenden) von unseren Geheimdienste alimentiert wurden? Und dass Jahre später Gerichte und parlamentarische Untersuchungsausschüsse immer wieder durch eine konsequente Obstruktionspolitik eben dieser Geheimdienste an einer "vollständigen Aufklärung" *8 gehindert werden würden? All dies hätte ich damals nicht geglaubt, dabei war ich doch (halbwegs aufmerksamer) "Zeitzeuge".

Es hilft also nichts: "Zeitzeugenschaft" allein reicht in solchen Fällen nicht. Ohne intensives Nachforschen geht es dann nicht. Und weil "wir" Normalbürger das in aller Regel nicht selber tun können, soll die vierte Gewalt, eben die "freie Presse", dies eigentlich stellvertretend für uns tun. Und in im Wortsinne kriminellen Fällen sind Polizeien und Staatsanwaltschaften die von "uns" als dem "Souverän" beauftragten Stellen dafür.



7. "The elephant in the room"

In den vielen Zeilen von Herrn Ebmeyers Artikel findet sich verblüffenderweise kein einziger Hinweis auf das, was anglophone Menschen "the elephant in the room" nennen - ein eigentlich riesiges Objekt oder ein eigentlich offenkundiger Sachverhalt, der nicht erwähnt wird. Der Elefant ist hier offensichtlich die US-Regierung bzw. deren verschiedene (Geheim-)Dienste. Stattdessen findet sich eine regelrechte Lobpreisung der bolivianischen "Zivilgesellchaft".

Seit ich vor rund 10 Jahren das erste Mal über den Begriff "Zivilgesellchaft" stolperte, ist mir unklar, was das nun eigentlich sein soll. Früher war das einfach: Da gab es Menschen in Uniform, eben Soldaten und Polizisten (und Post- und Bahnbeamte), und Leute ohne, also "in zivil" oder eben Zivilisten. Aus dem Kontext, in dem "Zivilgesellchaft" in der Regel verwendet wird, ergibt sich jedoch , dass damit durchaus nicht alle Zivilisten gemeint sind. Vielmehr scheint es sich, besonders wenn von den "Sprechern der Zivilgesellchaft" die Rede ist, um eine Art von neuzeitlichem Adel zu handeln. Und konkret sind es dann meist Sprecher von "en-dschih-oohs" oder NGOs, also "non-governmental organizations" oder deutsch "Nichtregierungsorganisationen", die diesem neuen medialen Adel zugerechnet werden.

Nun ist unbestritten, dass "NGOs" wie Greenpeace oder Amnesty international sich für ehrenwerte Ziele einsetzen, eine gewisse positive Voreingenommenheit gegenüber diesem Begriff ist also verständlich. Nur sind eben auch viele andere Gruppen in "NGOs" organisiert, der Kaninchenzüchterverein von Unterhaching ebenso wie die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" oder das "Atlantic Council" oder die "Mont Pelerin Society" oder das "World Economic Forum". Dadurch kommt ihnen natürlich nicht automatisch eine höhere moralische oder politische Urteilsfähigkeit zu, sondern gerade die letztgenannten verfolgen ganz klar die Interessen sehr spezifischer Gruppen.

Hier fordere ich meine Leserinnen und Leser auf, sich einmal selbst auf die Suche nach dem "Elefanten im Raum" zu machen. Stichworte für kleine Internetrecherchen könnten "NED" (National Endowment for Democracy) oder "USAID" (dies freilich eine Regierungsbehörde) oder die im besagten Artikel vielzitierte "OAS" (Organization of American States), letztere eine supranationale Einrichtung, sein.

Oder man recherchiert einmal, welche Vorhersagen es zum zukünftigen Bedarf an Lithium gibt. Von diesem Mineral hält Bolivien glücklicher- oder unglücklicherweise einen Grossteil der weltweit bekannten Vorräte. Hat dies die rasche Zustimmung unserer Bundesregierung zum Putsch ("ein Schritt auf dem richtigen Weg...") beeinflusst? Schliesslich hat man gerade erst der "darbenden" deutschen Automobilindustrie ein mit 500 Millionen Euro Steuergeldern bezuschusstes Batterieforschungszentrum in Aussicht gestellt. Und zur Sicherung von Rohstoffen ist ja auch der sanfte Herr Habeck von den Grünen bereit, deutsche "Kanonenboote" in den persischen Golf zu entsenden.



8. (K)ein Ausblick

Wie schon gesagt, bin ich definitiv kein intimer Kenner Lateiamerikas oder Boliviens. Allein schon die Beurteilung von Evo Morales' bisheriger Amtsführung würde ich mir nicht anmassen. Gehört er zu den Politikern, die "auf dem Gipfel nach einer gewissen Zeit ermüden und nachlassen oder umgekehrt, übermütig werden und den Bogen überspannen", wie es Sebastian Haffner einmal, ganz allgemein über Politiker und ihre "Form" schreibend *9, formulierte? Hätte Morales nach 14 Amtsjahren besser nicht noch einmal für das Amt antreten sollen? Allerdings kenne ich deutsche Politiker, die 14 oder noch mehr Jahre im Amt verbracht haben, ohne dass ihnen vom Militär der Rücktritt "nahegelegt" wurde. Freilich hatten sich diese Politiker (Kohl und Merkel) auch niemals einer persönlichen Wahl zu stellen, bei uns bestimmt eben das Parlament den Kanzler bzw. die Kanzlerin.

Damit sind wir wieder bei den Wahlen, die in einem demokratischen Staat schliesslich dem Volkswillen zur Geltung verhelfen sollen. Diese sollten frei und ohne Wahlbetrug, aber eben auch ohne ausländische Einmischung vonstatten gehen können. Wenn sich über 40% der bolivianischen Bevölkerung plötzlich damit konfrontiert sehen, dass ihre Wahlentscheidung de facto annulliert wurde, kann ich zumindest den Anlass der derzeit im Lande stattfinden Proteste und Auseinandersetzungen verstehen.

Der Putsch hat mittlerweile ein fotogenes Gesicht in Gestalt einer Jeanine Anez bekommen, die sich zur "Interimspräsidentin" erklären liess und als eine ihrer ersten Amtshandlungen auch flugs ihren "Interimspräsidentenkollegen" namens Juan Guaido von Venezuela "anerkannte". Weitere Aktionen der ersten Tage war die Ausweisung kubanischer Ärzte (!) aus Bolivien sowie die Ankündigung, Militärs und Polizisten für alle Aktionen straffrei zu stellen, die "zur Wiederherstellung der Ordnung" nötig seien. Ausserdem sind Neuwahlen in Vorbereitung, von denen aber Evo Morales "selbstverständlich" ausgeschlossen sein soll. Ob damit Bolivien auf dem Weg zu innerer Befriedung und Ausgleich ist, wage ich zu bezweifeln.

Aber in der den grossen deutschen Medien scheint der Putsch (oder "Rücktritt") ohnehin kein Thema mehr zu sein, man hat - wie Herr Ebmeyer in vollkommener Eintracht mit Regierungssprecher Seibert - die Sache frühzeitig "eingeordnet" - wo kein Putsch sein soll, ist in der Wahrnehmung dieser Leute halt auch keiner.





(November 2019)




*1 Gewiss hätte ich mich in der Vergangenheit auch intensiver informieren können. Aber für fundiertere Betrachtungen fehlt mir einfach die Sprachkenntnis, wobei im Falle Boliviens ja nicht nur Spanisch (die Sprache der überkommenen Eliten), sondern auch Aymara oder Quechua (Sprachen der "Indigenen") essentiell wären.


*2 Es gibt diverse Themen auf Wikipedia, bei denen man auf der Seite "Versionsgeschichte" nachverfolgen kann, dass ein oder mehrere Autoren permanent Änderungen vornehmen, indem die Sätze oder Wörter des vorherigen Autors gelöscht oder korrigiert werden. Einer der in dieser Hinsicht ganz Fleissigen ist ein gewisser "Philip Cross", der offenbar erheblich Zeit und Energie darauf verwendet, gewisse Einträge in seinem Sinne "richtigzustellen" - z.B. den über George Galloway (siehe https://www.bbc.com/news ).


*3 Bolivien nennt sich seit einiger Zeit offiziell "plurinationaler Staat", was auf deutsch schlicht Vielvölkerstaat bedeutet.


*4 Interessanterweise nennt Herr Ebmeyer die bolivianische Wahlbehörde explizit "regierungseigene Wahlbehörde", so als ob die Regierung sie irgendwo eingekauft habe und frei über deren Tätigkeit (und Resultatsmeldungen?) verfügen könne. Natürlich ist die Wahlbehörde in Bolivien ebenso wie in Deutschland und den meisten anderen Ländern Teil der Verwaltung oder eben der Regierung.


*5 OAS = Organization of American States, Sitz Washington, D.C.


*6 Die der Sozialismusförderung unverdächtige WELT berichtete davon: https://www.welt.de/politik


*7 Die Nachdenkseiten berichten mittlerweile auch von Herrn Ebmeyers Artikel und den Reaktionen darauf: https://www.nachdenkseiten.de


*8 Auf der Trauerfeier für die NSU-Opfer im Februar 2012 hatte die Kanzlerin den versammelten Angehörigen die vollständige Aufklärung der Mordserie, um es etwas altertümlich zu formulieren, "in die Hand versprochen". Was folgte (bzw. anhielt) waren Aktenvernichtungen, Aussagesperren und Verschleierungsversuche der "Dienste" (namentlich Bundesamt für Verfassungsschutz und verschiedene Landesämter für Verfassungsschutz).


*9 In "Anmerkungen zu Hitler", Seite 50.



www.truthorconsequences.de