Onkel Wanja im Regenland (ein Märchen...)




Es war einmal … Onkel Wanja, den hatte das Schicksal von seiner Heimat Kaltland in das ferne Regenland verschlagen. Dort hatte er sich mittlerweile ganz gut eingelebt, sich auch, wie es sich dort auf dem Lande gehört, Haustiere angeschafft, und alles in allem war er wohl respektiert.

Aber mit zunehmenden Alter machte sich, wie bei so vielen Altersgenossen, auch ein tiefes Heimweh bemerkbar. Seine Töchter waren in Kaltland geblieben, und die gelegentlichen Videochats waren kein vollwertiger Ersatz für ein echtes Familienleben. Wie schön wäre es doch, die Enkelchen ganz hautnah aufwachsen zu sehen. Solche wehmütigen Gedanken suchten Onkel Wanja also heim, aber eine Rückkehr in die Heimat wäre nicht ganz problemlos gewesen.

Denn Onkel Wanja hatte einst, in zugegeben tumultuarischen Zeiten, seinem Heimatland sehr geschadet (man sprach damals gar von Hochverrat). Rein technisch hätte er, da er immer noch Staatsbürger von Kaltland war, auch einfach den nächsten Aeroplan nach Kaltland besteigen können. Aber der Empfang dort wäre wohl recht kühl gewesen, und die Bürokratie des Landes hätte seinem Aufenthalt dort zahlreiche Stolpersteine in den Weg legen können.

Ach, hätte ich nur 'was, mit dem ich den neuen Herren in Kaltland meine wiedergewonnene Loyalität beweisen könnte - so grübelte Onkel Wanja.

Da traf es sich, dass er in seinem Lieblingspub einen etwas frustierten Angestellten der nahegelegenen militärischen Forschungsanstalt Beach-Down traf. Nach einigen Runden Ale oder Whiskey oder Wodka geraten die beiden Herren in eine Art Wettstreit, wer denn wohl Zugang zu den grösseren militärischen Geheimnissen hat bzw. hatte - Onkel Wanja oder der Angestellte, den wir im weiteren vielleicht Tom nennen wollen.

"Nie im Leben hast Du, Tom, Zugang zum Nervengift Kasachok - dass hatten nur wir in der ehemals stolzen Union der Kaltländer!" fordert Onkel Wanja die neue Bekanntschaft heraus. "Du wirst schon sehen - nächsten Sonntag treffen wir uns im Park, da zeig ich dir 'was!" entgegnet Tom.

In den Tagen bis zum Treffen malt sich Onkel Wanja aus, wie er diese Nachricht - wenn sie sich denn bestätigen lässt - als eine Art Empfehlungsschreiben für die neuen Kaltland-Herrscher nutzen könnte. So eine Nachricht ("auch Regenland forscht an Supergiften") könnte ja von der Kaltland-Regierung mindestens publizistisch ausgenutzt werden.

Am nächsten Sonntag treffen sich also Onkel Wanja und Tom im Park. In Begleitung von Onkel Wanja ist seine Tochter Sofia, die gerade zu Besuch ist. Vielleicht kann die Tochter als eine Art Kurier zwischen ihm und der Kaltland-Regierung dienen - so hat sich das Onkel Wanja jedenfalls vorgestellt.



Den Sonntag begehen Vater und Tochter zunächst unspektakulär: Zuerst ein Restaurantbesuch und danach ein kleiner Spaziergang im Park. Hat sich Onkel Wanja aus alter Gewohnheit nach Verfolgern umgesehen? Es könnte ja sein, dass der freundliche Geheimdienst der Regenland-Regierung immer noch den ehemaligen Doppelagenten observiert - aber alles scheint unauffällig. An einer Parkbank treffen Sie schliesslich Tom, der Ihnen eine Ampulle von Kasachok zeigt.

Dann geht irgendetwas schief - hat Onkel Wanja zu eilig nach der Ampulle gegriffen, oder will Tom sie plötzlich wieder zurückreissen? Wie auch immer, die Ampulle fällt herunter und zerbricht. Und Tom, der nur allzu gut über die Giftigkeit des Stoffes weiss, rennt um sein Leben - fort vom Gifthauch, der Wanja und Sofia gleich darauf ohnmächtig werden lässt.

Aber Tom ist kein herzloser Unmensch - sobald er sich in Sicherheit wähnt, ruft er im lokalen Krankenhaus an. Gut möglich, dass er dabei "offiziell" vereinbarte Sicherheitscodes benutzt. Wenn sagen wir "714" für "Nervengift-kontaminierte Person" stehen würde, so hätte unser Tom vielleicht nur "Zwei 714er im Stadtpark, dringend" durchgeben müssen.

Wie in den Übungen wird sofort ein entsprechend ausgerüsteter Ambulanzwagen fortgeschickt. Zuvor hatte jemand noch die Idee, bei der Polizei um eine Polizeistreife zu bitten, die unvorsichtige Spaziergänger von den kontaminierten Personen fernhalten soll. Auch das funktioniert, aber der Polizist begeht die Unvorsichtigkeit, eine der Personen anzufassen - vielleicht will er nach dem Puls der jungen Frau fühlen? Jedenfalls wird auch er dann leichte Vergiftungssymptome zeigen.

An dieser Stelle unterbrechen wir unser Märchen für eine Weile, ohne allerdings die frohe Botschaft zu verheimlichen, dass am Ende sowohl Wanja als auch Sofia die Vergiftung überleben werden.

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Bis hierhin ist unser Märchen gewiss nicht sensationell, und eben auch keine der so modern gewordenen "Verschwörungstheorien". Denn eine "Verschwörung zum Mord" gibt es hier ja nicht, sondern nur allzu gewöhnliche Leidenschaften von Menschen: Heimweh auf der Seite von Onkel Wanja, Prahlerei oder Frust bei "Tom", Unachtsamkeit beim Polizisten. Und die dann erfolgte Freisetzung des tödlichen Giftes ist hier keine finstere, von langer Hand geplante Absicht, sondern schlicht ein dummer Unfall.

Man könnte unser Märchen auch mit einem realen Vorfall vergleichen, der sich im Marz 2018 in Salisbury (UK) ereignete. Und zu beachten wäre, dass unser Märchen bis hierhin die harten Fakten besser in einen Sinnzusammenhang bringen würde als die "offizielle" Version: sowohl den je unterschiedlichen Zustand der 3 Vergifteten als auch die sofortige, zielgerichtete Intervention der beteiligten Mediziner. Und die (soweit bislang bekannt) Abwesenheit von Vergiftungssymptomen beim behandelnden Personal. Zumindest insofern wäre also die Nähe von Porton Down zu Salisbury (und die deshalb zu vermutende diesbezügliche Einsatzbereitschaft der Klinik) segensreich gewesen.



Der Fokus unseres kleinen Märchens wird im Folgenden nicht mehr bei den drei Vergifteten liegen, um deren Leben sich das Personal der Klinik in Salisbury intensiv (und am Ende erfolgreich) bemüht. Während unser Onkel Wanja und seine Tochter komatös im Krankenhaus liegen, nimmt die Nachricht von den Vorfällen den vorgesehenen Weg durch die Instanzen. Wenige Stunden später ist also die Regierung von Regenland informiert, und damit hat sie ein Problem - und zwar ein riesengrosses Problem.

Denn wie soll man der Öffentlichkeit erklären, dass man da jahrelang in den eigenen Militärlabors an den allergiftigsten Stoffen forschte, während man aussenpolitisch mehrfach (und mehrfach auch falsch) den Vorwurf des Chemiewaffenbesitzes an fremde Regierungen richtete. Der Hinweis, dass die reine Forschung an Proben im Labor-Massstab nach den Paragraphen der Chemiewaffenkonvention durchaus erlaubt war, hätte da wenig geholfen.

Und dazu kommt der Skandal, dass da irgendein Laborant (unser "Tom") genau so einen Giftstoff an den (hoffentlich vorhandenen) Kontrollen vorbei mitten in ein idyllisches Städtchen bringen und schliesslich freisetzen konnte.

So einen Skandal erläutern und überstehen zu wollen, hätte tatsächlich verdammt viel "Courage" und Stehvermögen erfordert. Aber die aktuelle Regierung von Regenland zeichnet sich eher durch Mittelmässigkeit aus, und ist darüber hinaus ohnehin schon heftigster Kritik aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt. Was also tun?

Irgendein Spin-Master hat die rettende Idee: Ist nicht das "Kasachok" ein Kaltland-Name, wurde es nicht nachweisbar vom Vorgänger-Staat Kaltlands zuerst synthetisiert? War nicht das Opfer, unser "Onkel Wanja", zuvor ein Agent eben dieses Kaltlands gewesen? Hatte man nicht in letzter Zeit recht erfolgreich mehrere Kampagnen gegen Kaltland gefahren, die den dortigen Herrschern die übelsten Absichten gegen "den freien Westen" unterstellten? Würde es nicht einigermassen glaubhaft klingen, wenn man die Sache als einen perfiden Racheakt von Kaltland am ex-Agenten Wanja darstellen würde?

Auch die inzwischen eingeweihten transatlantischen Freunde aus dem Sternstreifenland finden die Idee grossartig, zumal sie dort auch innenpolitischen Machtzuwachs für "die richtigen" bedeuten würde.

Für den maximalen Effekt werden auch die kontinentalen Freunde Regenlands eingespannt, und in einem selten gewordenen Akt "multi-nationaler Solidarität" wird als weitere Sanktion gegen Kaltland Botschaftspersonal ausgewiesen.

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Wie mag es wohl weitergehen in unserem Märchen? Das hängt überraschenderweise (ein kleines bisschen) auch von Ihnen, werte Leserin, werter Leser, ab. Welchem Märchen werden Sie mehr Glauben schenken - diesem hier oder dem der "Regenland"-Regierung oder einer noch anderen Version?

(Juni& Juli 2018)



1. Nachtrag: Ein Interview

In einem vielbeachteten Interview (www.youtube.com) hat der Leiter des britischen Forchungslabors Porton Down, Gary Aitkenhaed, betont, dass sein Labor nicht die Herkunft des als "Mittel aus der Gruppe der Novichoks" identifizierten Giftstoffes habe bestimmen können. Damit hat er direkt einer Aussage eines der ranghöchsten Mitglieder der eigenen Regierung, nämlich des damaligen Aussenministers Boris Johnson, widersprochen. Für jemanden, der der militärischen Disziplin unterworfen ist, eigentlich ein unerhörter Vorgang. Hat hier womöglich jemand heftige Gewissensbisse?



Ebenfalls auffallend, wie Aitkenhead im Fortgang des Gesprächs auf die Frage, ob Porton Down ebenfalls Novichoks besitze, ausweicht und statt dessen mehrfach versichert, dass die untersuchten Nervengifte "niemals die vier Wände seiner Einrichtung verlassen" könnten.

Also einerseits kein Dementi bezüglich der möglichen eigenen Herstellung des Nervengiftes, dafür heftige Versicherung, dass "in seinem Laden" alle Kontrollen funktionieren würden.






2. Doch kein Märchen...

Ende Juni kommen laut Angaben der britischen Regierung zwei weitere Personen in Kontakt mit "Novichok": Im unweit von Salisbury gelegenen Amesbury trifft es zwei angeblich alkohol- und/oder drogensüchtige Briten. Die Frau, Dawn Sturgess, stirbt wenige Tage später. Das ist nun alles andere als märchenhaft.

Pflichtgemäss äussert die britische Regierung ihre Bestürzung über den Todesfall, und weist die Schuld an diesem Vorfall ebenfalls Russland zu. Aber im Vergleich zu den Vorfällen im März läuft hier die regierungsamtliche PR-Maschine recht niedertourig, und folgerichtig gibt es auch keine Sonderkonferenzen europäischer Regierungschefs, keine multinationalen Solidaritätsbekundungen, keine neuerlichen Ausweisungen, keine verschärften Wirtschaftssanktionen oder ähnliches.

Da man hier ja einen handfesten Todesfall vorliegen hat und man mithin einen möglichicherweise echten Mordfall zu untersuchen hätte, mutet diese plötzliche Zurückhaltung der UK-Regierung schon seltsam an. Zyniker könnten darauf verweisen, dass der teuer eingekaufte Doppelspion Skripal der britischen Regierung schlicht materiell mehr "wert" war als die vermutlich mittellose Britin Dawn Sturgess.



Jedenfalls wird die Hypothese der britischen Regierung bezüglich des Skripal-Vorfalls ("von Russland gedungene Mörder kommen nach Salisbury mit Novichok im Gepäck") mit dem neuerlichen Vorfall noch weniger glaubhaft. Statt nach ausgeführter Tat in Salisbury den Restbestand an Novichok zu vernichten *1, transportieren die angeblichen Agenten das Zeug in einer Parfümflasche (!!!) durch die Gegend, um es entweder achtlos in einen Mülleimer zu werfen (Monate später!), oder aber vorsätzlich im Haushalt der neuen Opfer zu deponieren.

Wolfgang Schorlau, der ja für seine Romane u.a. zum "NSU-Komplex" umfangreich recherchierte, sagt: "Die Geheimdienste erzählen Geschichten. Und manchmal passieren ihnen dabei Fehler …" So muss man m.E. wohl auch die MI6-inspirierten Auslassungen der britischen Regierung beurteilen.

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*1 Wenn man die Informationen des schweizerischen LABORS SPIEZ bezüglich der verwandten Kampfstoffe Sarin und VX liest, kann man sich ohne Schwierigkeiten Vernichtungsmethoden ausdenken, die vollkommen mit haushaltsüblichen Mitteln und Gerätschaften umzusetzen sind und dabei relativ wenig Eigengefährdung aufweisen (zumindest wesentlich weniger Eigengefährdung als beim tagelangen Transport des Kampfstoffes).

www.truthorconsequences.de

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