Europa-Utopie als Instrument


"Zwischen der wichtigen Region und der Republik Europa brauchen

wir diese Zwischengröße [der Nation] schlicht nicht mehr."

"Man identifiziert sich kulturell ... wohl noch mehr als

Kohlenpötter oder Bayer denn nur als Deutscher." *1



1. Eine absurde Geschichte

Otto N. ist unzufrieden mit seinem alten Wagen - manchmal springt er schlecht an, der Lack ist stumpf geworden, das Lenkrad abgegriffen. Auch die Form findet Herr N. nicht mehr attraktiv, und ohnehin erscheint ihm der Verbrauch nicht mehr zeitgemäss.

Otto N. fährt also mit seinem Wagen auf den Hof eines grossen Autohändlers. Dort wird er freundlich von einem Verkäufer begrüsst - aber bevor sich Herr N. so recht versieht, hat der Verkäufer einen Vorschlaghammer genommen und beginnt damit, systematisch auf den Gebrauchtwagen einzuschlagen - erst auf die Scheinwerfer, dann die Fenster, schliesslich alle Hauben und Türen.

An der Stelle würde im wirklichen Leben der Kunde laut nach der Polizei rufend vom Hof rennen.

Aber wir wollen die Absurdität noch etwas steigern. Denken wir uns also Interessent Otto N. als Menschen von engelsgleicher Geduld und Sanftmut, der - nachdem der Verkäufer sein Zerstörungswerk vollendet hat - nur etwas bekümmert auf die zerbeulten Reste seines Wagens blickt und meint: "Jetzt brauche ich aber wirklich ein neues Auto...".



Und der Verkäufer schlüpft wieder in die vorgesehene Rolle und präsentiert dem Interessenten alle Fahrzeuge in der Verkaufshalle. Aber irgendwie passt davon keines so recht - 'mal ist das Fahrzeug zu klein, dann zu gross, beim dritten will die Form nicht gefallen - und so fort. "Kein Problem!", sagt der Verkäufer, und legt Otto N. den Prospekt eines neuen Modells vor. Und es ist mit allen seinen "Assistenzsystemen" und Gadgets genau das Auto, das sich Otto N. gewünscht hat. Nicht nur das - obwohl es laut Aussage des Verkäufers mit einem kleinen Sonderrabatt durchaus erschwinglich ist, soll es nur 1,2 Liter auf 100 km verbrauchen, aber fast 500 PS auf die Strasse bringen. "Den will ich!", sagt Otto N., und sogleich präsentiert ihm der Verkäufer einen unterschriftsreifen Vertrag. "Und wann wird er geliefert?", kommt als nächste Frage. Aber darauf druckst der Verkäufer unbehaglich herum: "… ja … nun … wir hoffen, die ersten Vorserienmodelle auf der übernächsten IAA präsentieren zu können..."




2. Eine noch absurdere Geschichte

Die beiden Protagonisten aus meiner obigen, frei erfundenen Geschichte würde man im wirklichen Leben wohl schleunigst einer ärztlichen Behandlung zuführen, denn ganz offensichtlich haben die "nicht mehr alle Tassen im Schrank".

Freilich habe ich diese Geschichte nicht aus reiner Fabulierlust ersonnen, sondern weil sich erstaunliche Parallelen zu einer wahren Geschichte erkennen lassen. Schauplatz ist hierbei Europa, Akteure sind Politiker, Journalisten und vielerlei "Experten". Und es geht um die Staaten, die in einem Gebilde namens "EU" vereint sind. Und genau diese Staaten sollen zertrümmert werden, wobei es sich für die Zertrümmerungs-Propagandisten glücklich fügt, dass die meisten EU-Mitglieder auch noch Nationalstaaten sind.

Wer an dieser Stelle einwendet, dass solche Vergleiche immer hinken, hat natürlich recht. Allerdings, und das werde ich im Folgenden herauszuarbeiten versuchen, ist die Metapher vom zertrümmerten Auto ja eigentlich noch zu wenig drastisch.

Denn unser hypothetischer Auto-Interessent könnte ja immerhin noch zu einem anderen Autohändler gehen, um dort passenden Ersatz zu bekommen. Weiter würde er natürlich vor jedem Gericht für das zertrümmerte Auto Schadensersatz zugesprochen bekommen.

Wenn allerdings unser "Staatsmobil" nicht mehr funktionstüchtig wäre, könnten wir es nicht zwei Strassen weiter gegen ein anderes Modell austauschen. Und natürlich kennt die UNO kein Schadensersatz-Recht für abhanden gekommene staatliche Strukturen...



3. Itafrande

Einem anderen möglichen Einwand möchte ich ebenfalls zuvorkommen. Denn es geht mir durchaus nicht um Restauration überkommener Gesellschaftsmodelle oder eine nostalgische Anhänglichkeit an irgendwelche nationalen Rituale. Erst recht sind mir Flaggen keine Sentimentalitäten wert, und aus rein ästhetischen Gründen würde ich die blaugelbe EU-Flagge durchaus dem unaparten schwarz-rot-goldenen Tuch vorziehen.

Aber darum geht es eben nicht. Staaten sind Ordnungsmechanismen, und als solche müssen sie funktionieren. Die Ziele staatlicher Ordnung haben sich natürlich im Laufe der Zeit gewandelt, aber für einen modernen, entwickelten Staat im 21. Jahrhundert würde ich neben Demokratie und Rechtstaatlichkeit auf jeden Fall auch soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich als hervorragende Ziele nennen. Und selbstverständlich muss Friedenswahrung und Friedenssicherung nach aussen und innen Teil der Staatsräson sein.

Nun könnte man wieder etwas Geschichte im Konjunktiv betreiben und sich vorstellen, dass etwa in den 1970er Jahren die Regierungen von Italien, Frankreich und (damals nur West-)Deutschland sich auf die Vereinigung zu einem Bundesstaat, sozusagen zu einer "Triunion Itafrande", verständigt hätten. Mit gründlicher Vorbereitung wäre das vielleicht in einem Zeitrahmen von 20 Jahren umzusetzen gewesen. Natürlich hätte es auch da gewisse Friktionen gegeben, nicht zuletzt wegen der 3 Sprachen. Andererseits zeigt die Schweiz, dass ein 3- oder 4-sprachiges staatliches Gebilde durchaus funktionieren kann, wenn auch im Detail vielleicht umständlicher.

Aber wenn dieser Bundesstaat durch eine sinnvolle Aufgabentrennung zwischen den dann zu "Regionalparlamenten" und "Regionalregierungen" herabgestuften bisherigen Staatsorganen und den Organen der neuen Unionsebene eine bestmögliche Repräsentation seiner Staatsbürger umgesetzt hätte, ja gerade dadurch die zuvor beschriebenen Staatsziele umso besser erreicht hätte - dann wäre ich gerne ein Staatsbürger von "Itafrande" geworden.



4. Krise

Spätestens seit dem sogenannten BREXIT, dem Austritt Gross-Britanniens aus der EU, befindet sich EU-Europa unübersehbar in der Krise. Von den EU-Befürwortern wird auch immer mehr erkannt, dass eine EU, die auf dem Weg zu einem unionierten Super-Staat voranschreiten soll, auch eine Art von "Staatsidee" brauchen wird.

Wie aber eine Staatsidee bekommen, wenn man keine zur Hand hat? Entweder man überhöht Begleitaspekte des Unionslebens zu phänomenalen, ohne EU als unmöglich dargestellten Erfolgen ("das Friedensprojekt EU", die "grenzenlose Freizügigkeit" im Schengen-Raum, die "Gemeinschaftswährung" für sorgenfreie Urlaubsreisen), oder aber man erfindet kurzerhand eine neue Idee.



5. Die Europa-Republik

Eine von denen, die sich da Gedanken um Europa und/oder die EU gemacht haben, ist Ulrike Guerot. In Büchern *2, Zeitungsbeiträgen (z.B. in der ZEIT oder der TAZ) und Vorträgen propagiert sie ihre Idee einer Europa-Republik. Freundlicherweise gibt sie für die Ausrufung derselben schon ein Wunschdatum an, das soll der 8.Mai 2045 sein *3.

In dieser Republik (oder in Guerot'scher Schreibweise RePublik) sollen, nachdem ein "neuer Gesellschaftvertrag" geschlossen wurde, endlich gleiche Steuern und gleiche soziale Rechte für alle Unionsbürger gelten, und vor allem soll das Prinzip "eine Person, eine Stimme" gelten. Als Basis dieses Staatswesens sollen nicht mehr (National-)Staaten agieren, sondern diese sollen zugunsten eines Verbundes der Regionen überwunden werden.

Bebildert werden diese Artikel dann oft mit Karten von Europa als Teppich aus kleinen, nahezu jeweils gleich grossen Regionen (ähnlich den mittelalterlichen Fürstentümern). In ihrem Buch liefert Frau Guerot sogar Konzeptstudien für ein "Euro"-Parlamentsgebäude mit, welches "dissensual interregionalism" (???) fördern soll.


Gerade die Idee des Regionenverbundes findet heutzutage viele Freunde, wollen sich doch viele gebildete Europäer nicht mehr als Mitglieder einer als veraltet empfundenen Nation empfinden, aber gleichzeitig ihrem ungefähren (und teilweise wechselnden) Heimatbezug eine "unbelastete" Begrifflichkeit geben.

Herrn Jakob Augstein vom SPIEGEL (Nr.42/2017) erscheinen diese Gedanken offenbar so überzeugend, dass er gleich die aktuelle Katalonien-Krise als Vorboten einer neuen Regionalisierungs-Bewegung sehen will.

In ihrem Buch spart Frau Guerot auch nicht mit Kritik an der EU und ihren Institutionen, spricht gar von "moralischer und kultureller Bankrotterklärung". Vielem davon kann ich durchaus zustimmen. Etwas merkwürdig erscheint mir, mit welcher Inbrunst Frau Guerot alles in ihr Europaprojekt aufnehmen will, was derzeit irgendwie positiv besetzt oder "hip" ist: "Regionalismus, bürgerliche Emanzipation, Nachhaltigkeit, Postkapitalismus, Postwachstumsgesellschaft, Allmende, genossenschaftliches Denken, Dezentralisierung, Gendergleichstellung..." - sogar die "Elektromobilität" ist schon als Programmpunkt für dieses Utopia-Europa fest reklamiert. Frau Guerot hat das instinktsicher als "Megatrends" ausgemacht, und ihre Europa-Republik soll diese als "work-in-being" natürlich auf jeden Fall umfassen.



6. Analysefehler

So schön diese "fantastische Geschichte" von der europäischen Republik klingt, gründet sie zuallererst auf einer falschen Analyse. Nach Frau Guerot kommen alle Übel im aktuellen Europa vom nationalstaatlichen Eigensinn, der der hehren, urprünglichen Idee vom "europäischen Projekt" den Garaus bereitet habe. Nur gibt es dafür gar keine Evidenz, eher im Gegenteil: Nie waren die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten "pro-europäischer" (bzw. mehr pro-EU) als im letzten Vierteljahrhundert, und mindestens bis zur Finanzkrise 2007/2008 haben ja die europäischen Völker auch ganz brav die pro-EU-Parteien mit grossen Mehrheiten in die Parlamente votiert. Und auch die konkrete Politik der Mitgliedsstaaten hat ja bis dato (tutto grosso) immer mehr Gestaltungsbefugnisse an die EU-Institutionen abgetreten.

Mindesten 2 Ereignisse haben aber die Akzeptanz des "weiter-so-EU" sehr geschmälert. Das erste war die Finanzkrise von 2007/2008, das andere die "Flüchtlingskrise" von 2015.

Das erste Ereignis hat auch dem nicht so wirtschaftlich interessierten EU-Bürger klargemacht, dass die nationalen und EU-Eliten zwar umstandslos bereit sind, sogenannte "notleidende Banken und Versicherungen" mit milliardenschweren staatlichen Unterstützungen und Bürgschaften zu "retten", während umgekehrt für die Sicherung ihrer Arbeitsplätze und Auskommen plötzlich kein Geld mehr da war. Mit dem zweiten Ereignis war klar, dass die EU-Eliten willens waren, demographische Experimente grössten Ausmasses einzuleiten, ohne jemals die Beteiligung der betroffenen "Bestands"-Bevölkerungen auch nur in Erwägung zu ziehen.

Erst danach fanden die wechselweise "nationalistisch" oder "populistisch" oder "euro-skeptisch" oder "anti-europäisch" betitelten Parteien deutlich mehr Zulauf, sind gar bei der letzten französischen Präsidentschaftswahl nicht weit vom Sprung in wirkliche Machtpositionen entfernt gewesen. Und seitdem herrscht gerade im Bildungsbürgertum heftiges Rätselraten, wie es denn soweit kommen konnte.



7. Nur Fiktion?

Da ich ihr schon angesprochenes Buch noch nicht vollständig gelesen habe, möchte ich Frau Guerot nicht unrecht tun und gehe, sozusagen als Arbeitshypothese, im Folgenden davon aus, dass sie wahrhaftig an ihre Utopie glaubt und dass die vielen Reisen, die sie zur Promotion ihrer Gedanken unternimmt (siehe den verlinkten Zeit-Artikel), aus ehrlicher Begeisterung für "Europa" unternimmt.

Trotzdem fällt auf, dass von ihrer (berechtigten) Kritik an der EU-Führung, die sie im Buch äussert, in den Artikeln und Interviews wenig bis nichts übrig bleibt. Dafür gibt es staunenswerte Verkürzungen und Simplifizierungen, die man in anderem Kontext sicher als "populistisch" abtun würde:

"Der Nationalstaat provoziert Krieg"

"[Man muss] die Demokratie aus dem Gefängnis des Nationalstaats befreien."

Wenn der neue französische Präsident Macron einen ganz ähnlichen Satz benutzt ("Ich halte nichts von Protektionismus, weil er eine Form von ökonomischem Nationalismus ist." oder noch kürzer "Le protectionnisme, c'est la guerre." [Protektionismus ist Krieg] *4, so findet sich Frau Guerot natürlich in gehobener Gesellschaft. So zitiert sie auch gerne den Literaturpreisträger Robert Menasse: "Heimat ist Region, Nation ist Fiktion. Nationen sind konstruierte Erzählungen."

Nur - ist das alles auch richtig? Wenn es so wäre, so müssten ja Norwegen und Finnland, die Schweiz und Irland mit die nationalistischten und kriegstreiberischten Staaten/Nationen überhaupt sein. Davon kann aber, zumindest in der Geschichte nach 1945, überhaupt keine Rede sein.

Und natürlich kann man die Nation als Fiktion betrachten. So lese ich gerade ein Buch von Yuval Harari, in dem der Autor viele Seiten darauf verwendet, nachzuweisen, dass überhaupt alle gesellschaftlichen Konstrukte "Fiktionen" sind. Das ist insofern richtig, als wir durchaus innerhalb von Tagen eine gesellschaftliche "Fiktion", z.B. die Demokratie, gegen eine andere, z.B. die Diktatur, austauschen können. Und wenn die heute so bekannt gewordenen "Reichsbürger" immer noch an die Existenz des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939 glauben, dann können sie die "Fiktion" von der Bundesrepublik damit innerlich ablehnen. Nur - der Steuerbescheid, den sie erhalten, kommt natürlich von einem Amt dieser Bundesrepublik, und der Polizist, der sie z.B. wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhält, wird von eben dieser BRD bezahlt. Da bekommt die Fiktion "Staat" eine allzu reale Präsenz; der Staat ist "for all intents and purposes" real.

Und auch die Begrifflichkeit "Nation" kann man als Gedankenkonstrukt ebenso "fiktiv" nennen. In dem Sinne, dass in Vergangenheit und Gegenwart (und vermutlich auch in der absehbaren Zukunft) sehr viele reale Handlungen aus nationalen Interessen oder als für die Nation gut/notwendig begründet werden, entwickelt diese "Fiktion" aber auch reale Präsenz.

Wieso überhaupt muss den Italienern und Franzosen, den Polen und Niederländern usf. unbedingt etwas abgewöhnt werden, was Kanadier und Argentinier, Japaner und Chinesen usf. ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, nämlich Nationen bzw. Nationalstaaten zu sein?



8. Strategiefehler

Wenn ich Frau Guerot richtig verstanden habe, sind in Europa die Nationalstaaten deshalb zu überwinden, weil es das "europäische Projekt" gebietet: "Die Demokratie aber muss europäisiert werden, soll das europäische Projekt nicht vor die Wand gefahren werden. Auf den einen Markt und die eine Währung muss die eine Demokratie folgen, die auf der politischen Gleichheit ihrer souveränen Bürger, also einer europäischen Staatsbürgergemeinschaft beruht...".

Nur - wer definiert dieses "europäische Projekt"? Im Moment sind es wohl ungenau definierte "Eliten", die in den Institutionen der EU, in den Regierungen der "tonangebenden" Staaten und "der Wirtschaft" die Ausgestaltung des Projekts bestimmen. Und Frau Guerot möchte die Gestaltungshoheit wieder zurücktransferieren auf die europäischen Staatsbürger. Dem kann man nur zustimmen.

Konkret möchte Sie, dass ihre "Utopie einer Europäischen Republik … einen Resonanzboden findet..." und diese Menschen dann "mithelfen, sie zu verwirklichen". Im Folgenden nennt sie fünf Gruppen, die sie besonders ansprechen will - aber die brauche ich hier garnicht alle zu zitieren, da die erstgenannte ("alle europäischen Bürger") alle weiteren schon umfasst. Eine seltsame Logik … und es wird noch schwieriger, wenn man sich den weiteren Text des Buches vergegenwärtigt, denn da wimmelt es von Bezügen zur griechischen Antike, zu Philosophen aller Art, von "Epiphanien" und "ius aequum" und anderen gelehrten Ausdrücken, und mit dem schon erwähnten Begriff "dissensual interregionalism" werden auch viele fleissige ZEIT-Leser ihre Schwierigkeiten haben. Mit anderen Worten: Ein hoch bildungsbürgerliches Projekt, welches Frau Guerot da entwirft, und ganz offensichtlich eines, dass hohe Gefahr läuft, zu einem ebenso abgehobenen Elitenprojekt zu werden, wie es die klassische EU nun schon ist.

Der Satz "Auf den einen Markt und die eine Währung muss die eine Demokratie folgen..." impliziert übrigens, dass sie mit dem Gemeinsamen Markt und der EURO-Währung gar kein prinzipielles Problem hat. Nur sind ja gerade diese beiden Bereiche genau die, die soviel Fliehkraft in der EU erzeugt haben wie nie zuvor.

Wie der EURO die wirtschaftliche Souveränität der Mitgliedsländer sehr zum Nachteil der "Südstaaten" beschnitten hat, habe ich hier schon mehrfach erläutert und brauche es nicht zu wiederholen. Und der EU-Markt wurde und sollte ja auch zunehmend ein gemeinsamer Arbeitsmarkt werden ("Freizügigkeit für Menschen"), und gerade dieser Punkt hat ja für den meisten Widerwillen z.B. bei den Brexit-Diskussionen in Grossbritannien gesorgt. Egal ob man diese Art von "Ausländerfeindlichkeit" für reaktionär oder begreifbar hält, sie bleibt ebenso eine gesellschaftliche Realität wie die Staaten selbst.

Frau Guerot will ihrem neuen Europa-Projekt ja über 25 Jahre Zeit zum "Reifen" geben, aber über das, was da in der Zwischenzeit in Europa geschehen soll, hält sie sich seltsam bedeckt. Aber weder die EU-Kommission noch die "tonangebenden" Regierungen werden in der Zwischenzeit untätig bleiben. Die Kommission verhandelt, nach dem auf Eis gelegten TTIP, umso entschiedener ein JEFTA mit Japan und setzt das schon beschlossene CETA nach und nach in konkretes Recht um. Auch eine neue Bundesregierung unter Merkel wird das aus "Stabilitäts- und Wachstums-Pakt" und EURO bestehende Austeritäts-Diktat weiter festzurren.

Konkreter: Wie die fast schon festzementiert erscheinende Arbeitslosigkeit und insbesondere Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen? Wie die Arbeitnehmerrechte trotz CETA & Co. sichern oder ausbauen? Wie die Ghettoisierung in den "armen" Stadtteilen aufhalten und die Gentrifizierung in anderen beschränken? Wie mit der nächsten Bankenkrise (oder Immobilien- oder Versicherungskrise...) umgehen? Zu all dem kommt leider nichts ...



9. Merkwürdige Verbindungen

Ein Absatz im schon erwähnten Zeit-Artikel *5 hat mich etwas stutzig gemacht. Wenn Frau Guerot "...quasi ihre Lebensversicherung geopfert [hat], um die Zukunft der EU zu retten", wie kann sie sich dann wöchentliche Reisen quer durch Europa leisten? In solchen Fällen nutze ich gerne Wikipedia & Co., um mir etwas Hintergrundwissen zu verschaffen.

Danach führte sie ihr Berufsweg u.a. über Tätigkeiten bei der EU-Kommission unter Jacques Delors, bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik DGAP (die uns ja schon durch Frau Sylke Tempel unangenehm aufgefallen ist), dem German Marshall Fund und dem European Council on Foreign Relations ECFR zu einer Professur an der (österreichischen) Donau-Universität Krems, bei der ihr Wohnsitz in Berlin offenbar kein wesentliches Hemmnis darstellt.

Hochinteressant ist dabei besonders die Verbindung zum ECFR, denn dabei hätte sie durchaus mit einigen bekannten Gründungsmitgliedern in Kontakt treten können: Joschka Fischer (ex-Aussenminister), Caio Koch-Weser (Deutsche Bank), Karl-Theodor zu Guttenberg (ex-Verteidigungsminister) und George Soros (milliardenschwerer US-Investor und über seine "Open Society Foundation" heftig gerade in Osteuropa hineinregierender "Mäzen").

Zumindest teilweise hätte ich mir die Recherche ohnehin sparen können, denn auf den Danksagungsseiten des Buches tauchen z.B. Delors und das ECFR ohnehin auf, ebenso die Soros-Stiftung in ihrer "Regional"-Form als Open Society Iniative for Europe (und - neben vielen anderen - Ulrike Herrmann von der TAZ, Katja Kipping von den LINKEN und Rebecca Harms von den GRÜNEN).

Nun möchte ich Frau Guerot ja, ganz im Sinne der unter 7. geäusserten Arbeitshypothese, in keiner Form nur wegen ihrer "connections" vorverurteilen. Der Gedanke, dass da ein US-Milliardär via "Think Tanks" an der Verfasstheit der europäischen Staaten mitschreiben könnte, ist trotzdem gruselig.

Apropos Think Tank: Ihr eigenes Projekt namens "European Democracy Lab", für dass sie laut ZEIT ja ihre Lebensversicherung geopfert haben soll, ist leider in Wikipedia noch nicht rubriziert, und die eigene Webseite http://www.european-republic.eu/ schweigt sich über die Finanzierung aus. Die Seite ist übrigens in 9 Sprachen aufrufbar: 8 davon sind Amtssprachen der EU - das Fehlen der restlichen 16 wollen wir einem möglicherweise rein privaten Projekt nicht ankreiden. Wieso nun allerdings Ukrainisch die neunte Sprache ist? Hat sich da das besondere Interesse, das Herr Soros offensichtlich für die Ukraine zeigt, durchgesetzt?

Wir könnten eine weitere Arbeitshypothese aufstellen: Was, wenn Frau Guerot einigen ihrer Businesspartner aus EU und Think Tanks als umtriebige, ideenreiche und "inspirierend" schreibende Intellektuelle aufgefallen wäre, deren Ideen man zwar nicht unbedingt teilt, die man aber trotzdem unterstützen möchte? Wenn man beschlossen hätte, deren Europa-Projekt zu fördern (vielleicht auch nur durch positive Berichterstattung in den grossen Zeitungen), gerade weil sie zu keinerlei unmittelbaren Widerstand zur aktuellen Politik führen kann, sondern alles auf ein Ideal-Europa am Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt?

Oder platt formuliert: "Sollen sich die Intellektuellen-Heinis doch die Köpfe heissreden darüber, ob ein 'richtiges' Europa-Parlament nun 1, 2 oder 3 Kammern benötigt - in der Zwischenzeit können wir wie gewohnt Politik zum Wohle der Konzerne und Banken machen..."



10. Euro-Absurdistan

Der geduldige Auto-Interessent aus meiner absurden Eingangs-Geschichte nimmt die Zerstörung seines Besitzes stoisch hin. Sollten wir als Staatsbürger der jeweiligen EU-Staaten dieselbe Geduld und Sanftmut aufbringen, wenn unser historischer "Staats-Besitz" systematisch zertrümmert wird?

Ob nun beabsichtigt oder nicht, auf jeden Fall werkelt auch Frau Guerot munter an einem Zerstörungswerk mit, dessen Ziel die Entmachtung der europäischen Staaten ist. Dieses Ziel, das muss man betonen, ist sowohl aus Sicht der EU-Kommission und EU-Bürokratie, aber auch aus Sicht der grossen transnationalen Konzerne nur folgerichtig. Denn ein Lobby-Oligopol mit angehängtem EU-Parlament als "Quasselbude" ist das beste, was sich diese Organisationen und deren Top-Leute wünschen können.

Und weil das so ist, müssen alle, die wirklich ein aufgeklärtes, soziales, friedliches und prosperierendes Europa wünschen, für den Erhalt der Souveränität der bisherigen Staaten stimmen. Nicht weil diese (nicht zuletzt auch aus Zufällen entstandenen) Gebilde das "letzte Wort der Geschichte" wären, sondern weil sie ganz konkret das letzte halbwegs demokratische Bollwerk gegen Plutokratisierung und Total-Ökonomisierung bilden.

Und dabei habe ich persönlich auch kein Problem damit, wenn ich in Teilbereichen dann auch Peter Gauweiler oder Madame Le Pen zustimmen muss. Adenauer z.B. machte zu seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister auch gelegentlich Kompromisse mit den Kommunisten - wir sollten nicht dümmer sein als der Alte von Rhöndorf.



11. Kleine Utopie

Der oben erwähnte Jakob Augstein meint ja in der derzeitigen Katalonien-Krise schon die Anfänge eines neuen Regionalismus zu erkennen. Nur liegt er ja klar erkennbar falsch damit: Was die Katalanen (oder ein grosser Anteil derselben) wollen, ist ja gerade staatliche Souveränität und nicht ein irgendwie-Regionsstatut in einer irgendwann-EU-Republik.

Und das ist auch nur folgerichtig, denn nur Staaten können völkerrechtlich verbindliche Abkommen schliessen und gesellschaftlich autonom entscheiden. Entsprechend ist auch die ganze UNO-Architektur, vom Sicherheitsrat ganz oben bis zum untersten Spezialausschuss, auf dieses Interagieren von souveränen Staaten ausgerichtet. Das kann man im Sinne eines Weltbürgertums sub-optimal finden, bleibt aber trotzdem Realität.

Es ist auch auffallend, dass im anderen "Separatisten"-Gebiet die Schottische National(!)-Partei, die sich so lautstark um Verbleib in der EU bemüht hatte, und auf die so manche kontinentalen Beobachter so viele Hoffnungen gesetzt hatten, mittlerweile recht kleinlaut geworden ist. Denn der Weg "Schottland wieder in die EU" ist nach Lage der Dinge nur über einen souveränen, neuen Staat Schottland zu erreichen. Das Wagnis eines neuen Referendums über dieses Thema wagt aber auch die SNP, wegen sehr zweifelhaftem Ausgang, momentan nicht einzugehen.



Lassen wir uns aber trotzdem gedanklich noch einmal auf die Guerot'sche Europa-Republik ein. Wenn nun allen Hindernissen zum Trotz diese Republik in 20 oder 30 Jahren wirklich Realität werden sollte, was haben wir denn dann?


Zuallererst einmal wieder einen neuen Staat, und zwar einen verteufelt grossen. Noch dazu, wenn auch ich einmal einen aktuellen "Megatrend" fortschreiben darf, einen Staat, aus dem verflixt viele Kanonenrohre nach aussen zeigen *6.

Und diesen Superstaat der 500 Millionen, den brauche zumindest ich wirklich nicht. Da bin ich wesentlich bescheidener - mir würde eine weiterentwickelte Bundesrepublik vollkommen reichen. Eine, die sich (natürlicherweise) zuallererst um die Probleme der eigenen Bürger kümmern würde, aber ebenso natürlich um gute Partnerschaft und fairen Handel nicht nur mit den europäischen Staaten bemüht wäre. Eine, die die Rechte der lohnabhängig Beschäftigten (und One-Man-Pseudounternehmer) gegenüber den nationalen und internationalen Konzernen stärken würde. Eine Republik, die sich - gerne in Allianzen mit anderen friedenswilligen Staaten *7 - darum bemühen würde, unsere transatlantischen US-Partner von allzu hirnrissigen Kriegen abzuhalten. Eine, die die bürgerlichen Rechte schützen würde statt unter dem Vorwand von Terrorbekämpfung dieselben immer weiter auszuhöhlen.

So eine Republik wäre mir Utopie genug. Und das Schöne an dieser Utopie ist, dass der vielleicht ungeliebte, aber ungemein praktische Nationalstaat die Arbeit daran sofort möglich macht.

Und - nur der Vollständigkeit halber - das freie Reisen, den Kontakt mit Europäern verschiedenster Länder, den Gedankenaustausch über Sprach- und Länder-Grenzen hinweg - das kann man natürlich in einem Europa aus souveränen Staaten prinzipiell genauso haben, wie man es heute schon hat und zu grossen Teilen ja schon in den 1970er Jahren hatte.

(Oktober/November 2017)



*1 Zwei Aussagen von Lesern dieser Website.


*2 "Warum Europa eine Republik werden muss!" von Ulrike Guerot (Verlag Dietz, Bonn)


*3 Das Datum nimmt natürlich Referenz auf das Ende des zweiten Weltkriegs in Europa am 8./9. Mai 1945. Dass Frau Guerot das "russische" Datum des Kriegsendes (am 9. Mai wurde in Berlin-Karlshorst der Waffenstillstand nunmehr gegenüber sowjetischen Vertretern besiegelt) ignoriert, ist durchaus bezeichnend. Denn obwohl sie für ihre Europa-Republik allem Anschein nach von einem Europa im geografischen Sinne ausgeht, spielen für sie weder Russland noch die Türkei eine nennenswerte Rolle.


*4 Macrons längerer Satz stammt aus einem Interview mit der Berliner Morgenpost (datiert 18.04.2017), der kürzere aus einer in Arras ebenfalls im April gehaltenen Rede (laut Le Figaro).

*5 Aus dem ZEIT-Online-Artikel vom 03.01.2017:

"… lautet der Titel des aktuellen Buches der Politikwissenschaftlerin. Um es zu erklären, reist sie fast wöchentlich durch Europa. Kurz vor dem Interviewtermin in Berlin war sie in London, Wien, Rom, Florenz. Ihr Koffer liegt noch auf dem Holzfußboden ihrer Wohnung, unklar ob halb ausgepackt oder halb eingepackt."


*6 Hier konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und habe einen Satz, den Sebastian Haffner für das Verhältnis von neugegründetem Deutschen Reich und seinen Nachbarstaaten prägte, etwas abgewandelt. An mehr "Kanonen" ist übrigens nicht nur der Dauer-EU-Parlamentär Elmar Brok interessiert; derselbe Bereich war es auch, der dem neuen "Dream-Team" Merkel-Macron als allererstes für mehr Zusammenarbeit einfiel.


*7 Ein Verweis auf die "coalition of the willing", mit der ein George W. Bush in den Irak-Krieg zog.