Präsident Macron, Frau Özoguz und der Kulturkampf





> Il n'y a pas de culture française. Il y a une culture en France. Elle est diverse. <

(Es gibt keine französische Kultur. Es gibt eine Kultur in Frankreich. Sie ist vielfältig.)


> Le peuple français ne demande pas seulement de l’efficacité. Ils nous demandent ce que la philosophe Simone Weil appelait l’effectivité. <

(Das französische Volk verlangt nicht nur nach Wirksamkeit. Es verlangt nach dem, was die Philosophin Simone Weil Effektivität nannte.)



1.

Diese Zitate stammen vom "Heiland", dem"Pro-Europäer" oder "Pro-Germanisten" (um nur einige der Bezeichnungen zu zitieren, die man in der deutschen Presse fand), Emmanuel Macron.

Wir erfahren also vom nunmehrigen Präsidenten der französischen Republik sozusagen hochoffiziell, dass es keine französische Kultur mehr gibt. Stattdessen stellt das Land nach Macrons Ansicht nur mehr eine Art Behälter für eine "vielfältige" Kultur oder Kulturen dar.

Als "Kulturpluralist" soll man über diesen plötzlichen Verlust vermutlich gar nicht beunruhigt sein, schliesslich gedeihen die Kulturen ansonsten ja allüberall:

Da gibt es Ess- und Trinkkultur, angesehene Zeitungen sorgen sich um die Lesekultur, die Streitkultur wird zumindest verbal verteidigt, etwas begütertere Menschen geniessen Wohnkultur und erwarten von ihrem Auto selbstverständlich Fahrkultur. Rechtskultur, Diskussionskultur, Konzertkultur, Theaterkultur, Museumskultur und seit neuerem auch Willkommenskultur florieren - und alle Jahre wieder goutiert der Kulturbürger auch den Karneval der Kulturen oder ähnliche Veranstaltungen.


An Kulturen herrscht also kein Mangel - aber ausgerechnet eine französische Kultur soll es nicht (mehr) geben, und vermutlich auch keine deutsche oder britische oder italienische etc.


Denn mit seiner Abwehr der "nationalen" Kultur steht Macron ja nicht allein - so hat die Integrationsbeauftragte des Bundes, Frau Aydan Özoguz, neulich erst sehr kategorisch festgestellt, dass "... eine spezifisch deutsche Kultur [...], jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar [ist]. " Und weiter glaubt sie zu erkennen: "Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt."


Steht der moderne Bildungsbürger also vor der sich "vervielfältigenden Vielfalt" der Kulturen wie der Supermarktkunde vor dem Regal mit 27 Zuckersorten, und würde sein Leben ohne diese Vielfalt verarmen wie das des Supermarktkonsumenten?


Merkwürdig, dass in diesem bunten Kulturangebot ausgerechnet die nationalen Kulturen nunmehr unerwünscht sind und zumindest gedanklich abgewehrt werden sollen. Dabei waren diese Nationalkulturen jahrhundertelang selbstverständlicher Teil der intellektuellen Diskussionen - auch der "Weltbürger" Goethe empfand sich als Teil der deutschen Kultur.



2. Kulturkampf



Nun ist der Begriff "Kultur" offensichtlich nicht so scharf umrissen wie z.B. der Begriff "Erdbeermarmelade". In einem alten Lexikon findet sich die folgende Definition: "KULTUR: Im Gegensatz zur Natur alles, was dem bewussten, freien Schaffen des Menschen entspringt".

Vielleicht hat die kluge Frau Özoguz sogar recht, dass es jenseits der Sprache keine "spezifisch deutsche" Kultur gibt - aber dann doch wohl diesseits der Sprache ? Und dass sich Deutsch, Französisch, Englisch, Serbisch und Arabisch sehr deutlich unterscheiden, ist offensichtlich.

Frau Özoguz' Aufsatz im Tagesspiegel ist ganz klar als Abwehr des Begriffs der "Leitkultur" gedacht, und man kann ihr auch rechtgeben, dass die hoheitliche "Verordnung" einer "Leitkultur" unmöglich ist. Andererseits ist das Lebensgefühl in z.B. Edinburgh schon deutlich anders als in München oder Amsterdam oder Zürich. Die US-Amerikaner (die übrigens sehr selbstverständlich auch von einer US-Kultur sprechen) haben jahrzehntelang auch lieber vom "american way of life" gesprochen, den es zu verteidigen gelte. Man könnte also auch von einem britischen (oder schottischen), einem deutschen oder holländischen oder schweizerischen "Lebensgefühl" sprechen. Und auch richtig beobachtet ist, dass diese (nationalen) "Lebensgefühle" oder eben "Kulturen" nicht statisch sind, sondern sich beständig wandeln, auch (aber nicht nur) durch den Kontakt zu anderen "Kulturen". So ist das heutige London natürlich nicht mehr das der "Swinging Sixties" oder der 1980er oder der 1990er Jahre.

Eigentlich könnten ja Herr Macron ebenso wie Frau Özoguz mit den naturgemäss schwammigen Begriffen "französische Kultur" oder "deutsche Kultur" durchaus gelassen umgehen, sie eben einreihen in das vielfältige Kulturangebot, dass es in Mitteleuropa gibt. Aber sie insistieren ja darauf, dass es ausgerechnet diese Kulturen garnicht gibt. Sie betreiben also eigentlich einen Kulturkampf.

Der Begriff Kulturkampf mag historisch interessierten Menschen bekannt vorkommen: Damit wurde der, teilweise erbitterte, Kampf beschrieben, den der "ewige Reichskanzler" Bismarck zum einen gegen die Sozialdemokratie, zum anderen gegen die katholische Kirche führte - wir werden noch darauf zurückkommen. Auch der Kulturkampf der überzeugten "EU-Europäer" Macron und Özoguz hat zur Hälfte einen ganz konkreten politischen Hintergrund. Denn dadurch, dass die europäischen Eliten die europäischen Identitäten oder eben ihre Kulturen komplett aus dem Blick verloren haben, wurden diese Begriffe von den neuen konservativ-"populistischen" Strömungen wie Front National oder Alternative für Deutschland aufgegriffen. So können sie sich als die letzten Wahrer der nationalen Identität oder Kultur inszenieren, und das wird von einem Teil der oft heftig verunsicherten Bevölkerungen eben dankbar aufgenommen. Das dies etwa bei der AfD mit einer simplen Schuldzuweisung ("die Ausländer sind an allem schuld") verknüpft wird, macht die Sache zumindest für einfachere Gemüter umso attraktiver.

Hat also, wer wie Macron, Özoguz und viele andere die Existenz nationaler Kulturen leugnet, einen praktischen Hebel gefunden, um die "Populisten" zu de-legitimieren?



3. Nation und Kultur

Die Inszenierung als Hüter nationaler Kultur ist AfD oder FN (und gelegentlich der CSU etc.) vor allem deshalb so wichtig, weil der naheliegendere Begriff der Nation von der political correctness schon längst zum Unwort gestempelt worden ist. Insofern kann man diesen Parteien durchaus die Instrumentalisierung der Begriffe "nationaler" Kulturen vorwerfen.

Die Leugnung der Existenz nationaler Kulturen seitens Macron und Özoguz hat aber noch einen anderen, vielleicht viel weiter reichenden Aspekt. Dabei geht es um die sogenannten Grundfreiheiten der EU. Zu denen zählt (neben der allerwichtigsten, der Kapital-Freizügigkeit) auch die Freizügigkeit der Menschen. Nur ist diese Freizügigkeit eben nicht vorzugsweise touristisch gemeint, sondern, um es einmal platt zu formulieren:

Die Leute sollen gefälligst da hinkommen, wo es "dem Kapital" gefällt, Arbeitsplätze zu schaffen.

Und diese Art von Freizügigkeit ist ja in der EU in vollem Gang: polnische Schlachter nach Deutschland, belgische Elektriker nach Frankreich, italienische Bauarbeiter nach Dänemark etc. pp. Sicher wird das von einigen der auf diese Art Beschäftigten als Vorzug oder mindestens als Chance gesehen, "auch 'mal ins Ausland zu kommen". Andererseits gibt es sehr viele Gründe dafür, warum Arbeitsmärkte eben "sticky" sind und durchaus nicht mit den Märkten für z.B. Kartoffeln zu vergleichen sind. Diese störrischen Wesen namens "Arbeitskräfte" haben je individuelle Geschichten, haben ein familiäres und soziales Umfeld und wollen gelegentlich so reden, "wie ihnen der Schnabel gewachsen" ist (und das gilt natürlich auch für die anderen unfreiwilligen Wanderer, die Migranten und Flüchtlinge). Nicht jeder wird deswegen über Heimweh klagen - zumal ja der Begriff "Heimat" auch absolut "un-cool" ist.

Der gedankliche Sammelpunkt für diese, wenn man so will, Sentimentalitäten, ist meist die Nation oder - wenn man von dieser nicht reden will - die nationale Kultur. Und eben auch und gerade für jene, die von der globalen Arbeitskräfte-Umverteilung noch nicht erfasst sind, sich aber nur allzu deutlich davon bedroht sehen. Und schon wird klar, warum AfD und Pegida in Sachsen und Thüringen so grossen Zulauf haben.

Ebenso klar aber ist, dass den Konzernen und Wirtschaftverbänden solche Sentimentalitäten nur im Wege stehen. Und bei den EU-Eliten, zu denen Macron ebenso wie Merkel, Schulz und Juncker zählen, kommt als zusätzliche Motivation die "EU-Innenpolitik": Um Macht von den (National-)Staaten in die neue "politische Union" zu transferieren, muss man die bestehenden Machtträger, die Staaten, sukzessive schwächen - auch auf kulturell-geistigem Gebiet. Damit ist der Kampf gegen Begrifflichkeiten wie Nation oder nationale Kultur praktisch vorbestimmt.

Kombiniert wird das im Falle von Macron mit einem Effizienz-Fetischismus *1, wie er im zweiten obengenanntem Zitat anklingt. Das ist wiederum nur folgerichtig, wenn man wie der neue Präsident die "Wettbewerbsfähigkeit" als höchstes staatliches Ziel deklariert.

Interessant ist an diesem zweiten Zitat auch, dass jene französische Kultur, deren Existenz er im ersten Zitat gerade leugnet, trotzdem gerne als Quelle für eine hübsche rhetorische Dekoration ("was die Philosophin Simone Weil...nannte...") nutzt. Dabei kann er recht sicher sein, dass kaum jemand in den Werken der Mystikerin Weil nachschlagen wird, in welchem Kontext sie den Begriff "Effektivität" benutzte.



4. Schutz und Schild

Überhaupt haben die modernen Kulturkämpfer keine Scheu, sich nationale Symbole und Riten auszuleihen, wenn es ihnen nützlich erscheint. Das beste Beispiel ist der Sport, wo ja anlässlich der regelmässigen Europa- und Weltmeisterschaften oder Olympischen Spiele mittlerweile Flaggenschwenken zum Massenphänomen geworden ist. Oder aber das besonders alberne Ritual des sich in die Flagge hüllen bei siegreichen Leichtathleten.

Die Funktion dieser Flaggenseligkeit ist nicht schwer zu erraten: Der Sport dient als Identitätsersatz, das gemeinsame Flaggenschwenken und Singen wirkt als Surrogat für sonst nicht mehr angebotene Gemeinschaftserlebnisse.

Es ist also nur ein scheinbarer Widerspruch, wenn sich Macron und Merkel auf ihren Wahlkampfveranstaltungen in einem Meer von Nationalfarben bewegen, aber gleichzeitig aller nationalen (und regionalen!) Kultur den Boden entziehen.

Und bei diesem Kampf werden sie, zumindest in Deutschland, auch von zahlreichen Journalisten unterstützt. So ist aus dem Artikel "Armes deutsches Würstchen" von Jens Jessen *2 (passend mit einem Bild von Bockwürstchen mit Kartoffelsalat dekoriert) neben allerlei Wortbombast auch eine tiefe Verachtung für "weniger Junge, weniger Gebildete oder allzu speziell deutsch und alteuropäisch Gebildete" herauszulesen, die gegen die "Weltmarktkonkurrenz … nichts auszurichten" vermögen. Und er empfiehlt auch sehr konkret, anstelle einer Nationalidentität doch besser andere Identitäts-"Angebote" anzunehmen: "Ein Geschlecht, eine Hautfarbe, eine Herkunft hat schliesslich jeder." Statt Nation also Reduktion auf Folklore, eine Feierabendbeschäftigung für das gelegentlich vom "Treibsand der Globalisierung" eingeschüchterte Individuum. Und das ganze, das klingt in dieser Suada deutlich durch, bitte ohne jede Hemmwirkung auf das segensreiche Wirken der "Globalisierung".

Auch das deutsche Wahlvolk hat sich am 24.September in den europäischen Trend eingereiht, national-konservative oder nationalistische Parteien mit erstaunlichen Stimmenanteilen in die Parlamente zu wählen. Und Jens Berger hat sicher recht, wenn er als Hauptmotiv bei vielen AfD-Wählern vermutet, dass sie einen "Schraubenschlüssel ins Getriebe des Systems" *3 werfen wollten. Und diese Parteien verteidigen ja zumindest verbal sehr ausgesprochen die jeweilige Nation und die nationale Kultur. Das scheint also etwas zu sein, was die Wähler dieser Parteien nicht abschreckt, sondern vielleicht sogar besonders anzieht.

Der Zeit-Feuilletonist Jessen wird diesen "armen Würstchen" den "Abstieg in die Bedeutungslosigkeit, mindestens Arbeitslosigkeit" wohl ohne Wimpernzucken gönnen und kann es sich angesichts seines vermutlich sehr auskömmlichen ZEIT-Gehaltes wohl auch leisten. Herr Jessen, so darf man vermuten, hält nichts von der Nation und versteht nichts von der Nation *4.

Worum es wirklich geht: Der Staat und eben auch der National-Staat hat Funktionen. Eine davon ist, seine Bürger vor Verbrechern zu schützen - mittels Polizei, Justiz und ggf. Strafvollzug. Und dann kann der Bürger auch mit vollem Recht erwarten, dass der Staat auch vor Finanz-Verbrechern und Umwelt-Verbrechern schützt. Aber der deutsche Staat tut dies offensichtlich im Falle von Deutscher Bank und VW, von Maschmeyer und Monsanto nicht mehr. Auch weniger Gebildete merken, dass zwischen der Härte, die der Staat gegenüber Steinewerfern in Hamburg an den Tag legt, und der fast schon devoten Haltung gegenüber den Konzernspitzen ein Abgrund klafft.

Ebenso merken die Leute, dass sich der Staat immer mehr aus seiner sozialen Verantwortung (oder ander ausgedrückt, Schutzpflicht) stiehlt - siehe Hartz-4, Riester-Rente, ÖPP-Projekte. Etwas, dass der "alte" Nationalstaat in den 1950-1970er Jahren doch offensichtlich leisten konnte und wollte.



5. Weltoffen oder vaterlandslos?

Offensichtlich sind nun, nicht nur bei AfD und FN, zahlreiche Wähler davon überzeugt, dass der Staat (oder der Nationalstaat) seinen Schutzpflichten nicht mehr nachkommt - und die heraufdämmernde EU-Multikratie macht keinerlei ernsthafte Anstalten, diese Funktionen übernehmen zu wollen.

Von dieser nationalstaatlichen Komponente nicht messerscharf zu trennen ist auch eine Sehnsucht nach nationaler Kultur oder Identität. Frau Özoguz hat es sich diesbezüglich leicht gemacht: Da keine nationale Kultur zu identifizieren sei, wäre die Beschäftigung damit obsolet.

Zwar vermag auch ich nicht zu entscheiden, ob deutsche Kultur sich durch Singen von Volksmusik, durch das "Reservieren" von Strandliegen mit Handtüchern oder durch das Rezitieren von Goethes Frühlingsspaziergang aus dem Faust manifestiert *5. Das ist aber auch irrelevant - allein der Wunsch vieler Menschen nach einer solchen Kultur macht sie zu einer gesellschaftlich anzuerkennenden Realität.

Und innerhalb dieser Gesellschaft hat sie ebenfalls eine Funktion: Sie schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das weiter reicht als das "Schland"-Brüllen im Stadion. Dass eine ausgesprochene Bekämpfung genau dieser identitätsstiftenden Kultur, wie es die neuzeitlichen Kulturkämpfer betreiben, auch den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet, dürfte den meisten auch bewusst sein, ist vermutlich sogar von ihnen angestrebt. Denn das gesellschaftliche Ideal der Globalisierer ist ja ein in Einzelpersonen oder bestenfalls in "facebook-communities" zerfallendes Arbeiter- und Konsumenten-Heer.

Weiter oben hatte ich mich auf den Bismarckschen Kulturkampf gegen Sozialisten und Katholiken bezogen. Es ist interessant, dass Bismarck diesen Kampf an beiden Fronten verloren hat. Es gelang ihm weder, die Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit abzudrängen, noch den Einfluss der katholischen Kirche wesentlich einzuschränken. Die Katholiken blieben katholisch, und die Arbeiter strömten immer zahlreicher in die SPD, um im späten Kaiserreich und erst recht in der Weimarer Republik (zusammen mit der katholischen Zentrumspartei) zur regelrecht staatstragenden Partei zu werden.

Ein Detail aus Bismarcks Kulturkampf ist ebenfalls erwähnenswert: Oft bezeichnete er die Sozialisten, die sich ja schon damals auf mannigfaltigen internationalen Treffen austauschten, als "vaterlandslose Gesellen". Damit wollte er den "reichs- und kaisertreuen" Bürgern Angst machen vor Leuten, die ohne Bindung an ihr Vaterland möglicherweise "deutschfeindliche" Politik betreiben würden. Wie gesagt - das verfing nicht.

Aber in gewisser Weise haben wir heute wirklich eine Kaste von "vaterlandslosen Gesellen", denen es herzlich egal ist, ob sie heute bei Shell oder morgen bei Exxon, heute in Brüssel oder morgen in Washington, heute bei der EZB oder morgen bei Goldman Sachs in Top-Positionen sitzen. Die sich ihrer Jugend in Portugal oder Luxemburg, in Deutschland oder Italien, in Michigan oder Illinois zwar noch schwach erinnern, aber eigentlich keine Skrupel kennen, das "eigene" oder fremde Länder der "wirtschaftlichen Notwendigkeit" zu opfern (z.B. Griechenland). Für sich und ihr Geld haben diese Art von "vaterlandslosen Gesellen" dann meist auch angenehme Rückzugsorte gefunden (Panama, Cayman Islands, Luxemburg, Liechtenstein etc.) *6 .



6. Weltkultur und US-Kultur

Mit nationaler Kultur und Nationalstaat mag sich der "fortschrittlich" empfindende Mensch normalerweise nicht befassen - nicht nur Marx, Bebel und Jaures und andere Sozialisten wollten bewusst auch Internationalisten sein. Und der nationalistische Exzess, den Japan, Italien und Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren vorführten, schien ja Anlass genug, von nun an statt auf Nation voll auf transnationale Gebilde zu setzen. So gab es nach dem zweiten Weltkrieg eine Begeisterung für die UNO, die heute kaum nachempfunden werden kann. Und auch einige "Europäer der ersten Stunde" waren emphatisch, dass der bescheidene Anfang als Montanunion und später EWG sich im Laufe der Zeit zu einem Freiheit und Wohlstand garantierenden, vielleicht auch "ganz Europa" umfassenden neuen Gebilde formieren würde.

Freilich hatten da die USA schon ganz anderes vor: Ihr Europa sollte zuvorderst Glacis vor der bösen Sowjetunion sein. Um die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung zu erhalten, war nebenbei ein "kulturimperialistisches" Programm angesagt: Von den Hemingway-Novellen in den Schulbüchern über die Coke-Werbung bis zu den Hollywood-Kino-Grossproduktion wurde einiges aufgeboten, um die überkommenen Kulturen zu verdrängen. Erleichtert wurde das durch die Willfährigkeit der "Zielobjekte": Regis Debrays nennt es die "Liebe der Europäer zur US-Kultur" und stellt etwas konsterniert fest: "Derart hingebungsvoll auf die Auslöschung der eigenen Personlichkeit hinzuarbeiten, ist Stoff für einen Dramatiker."



Wobei man zugestehen muss, dass es natürlich auch in den USA Kultur im Sinne des Feuilletons gibt. Schriftsteller wie z.B. Mark Twain oder Arthur Miller; Maler wie Jackson Pollock oder Edward Hopper; Regisseure wie Martin Scorcese oder Woody Allen sind natürlich Begriffe im Kulturbetrieb, und dank der gigawattstarken Unterstützung durch Hollywood und andere Medien eben auch in Europa präsent.

Wobei der wirkmächtigere Teil der US-Kultur wahrscheinlich doch Fast Food, permanente Werbe-Berieselung (in TV und Internet) und ein übersteigerter Materialismus sind.

Möglicherweise passt diese Art Kultur auch bestens zu einem Kontinent mit "minimaler Vielfalt und maximaler Ausdehnung, nicht aber zu unserem Kontinent mit maximaler Vielfalt und minimaler Ausdehnung" (wieder Regis Debray *7).

Wird die US-Kultur kraft der obengenannten (eben auch ökonomisch getriebenen) Verstärkung nun sozusagen unausweichlich zur Weltkultur? Soll man die Vorstösse von Macron, Özoguz und anderen EU-Vertretern so verstehen, dass man in vorauseilendem Gehorsam besser gleich "seine" Kultur aufgeben soll?

Wenn man die Wahlergebnisse von Front National, FPÖ und anderen "Nationalpopulisten" in dieser Hinsicht interpretieren will, dann scheint ein substantieller Teil der Bevölkerungen nicht dieser Ansicht zu sein.



7. Die soziale Bombe

Als gegen Ende des zweiten Weltkrieges die allierten Bomberflotten nicht mehr nur die Großstädte, sondern auch Mittelstädte wie Paderborn, Pforzheim oder Pirna mit Bomben belegten, kam unter der Provinzbevölkerung eine Art Laiengebet auf: "Lieber Bombenflieger, fliege weiter - fliege weiter nach Berlin, dort haben sie alle JA geschrien !"

Gemeint war damit, dass man vor der alliierten "Bestrafung" doch besser verschont bleiben sollte, weil doch eigentlich die Leute im fernen Berlin "schuld" waren. Das war natürlich ungerecht, weil durchaus nicht alle Berliner für die Nazis oder für den Krieg waren. In der medialen Wirklichkeit des dritten Reichs waren aber die Bilder aus dem Berliner Sportpalast allzu präsent, als die dort versammelten Bürger auf Goebbels Frage "Wollt ihr den to-ta-len Krieg?" begeistert JA schrien.

Ein solches Gebet hat damals nicht geschützt, und es würde auch heute nicht vor der sozialen Sprengkraft schützen, die der Zuzug von nicht-Deutschen in grosser Anzahl mindestens potentiell darstellt. Allerdings sind einige Schichten in Deutschland in dieser Hinsicht wesentlich besser geschützt als andere. Fangen wir mit so etwas Banalem wie den Kosten der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge an. Diese wird aus den Beiträgen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen bestritten. Damit sind Frau Dr. Merkel und Herr "100%"-Schulz ebenso wie die Herren Kaeser und Zetsche "'raus aus der Nummer", die Kasse zahlen andere für sie.

Aber auch ein paar Nummern kleiner, sagen wir beim braven TAZ-Leser und Grünen-Wähler aus Charlottenburg oder Blankenese, sind die Folgen der "Flüchtlingskrise" kaum auszumachen. Wenn er seine Kinder (vielleicht mit dem SUV?) zur Schule bringt, muss er kaum befürchten, dass der Lernfortschritt durch die Widrigkeiten eines 40-, 50- oder 60-prozentigen Ausländeranteils behindert wird. In Friedichshain oder Harburg kann aber genau das die Wirklichkeit sein.



Seit 2015 haben Frau Merkel und die unterstützenden Medien an der Errichtung einer Art Konsens-Atrappe gewerkelt, die mit schönen Wörtern wie "Willkommenskultur" und "Wir schaffen das" die soziale Dimension der ganzen Migrationsproblematik zu verkleistern sucht. Und die Sozialdemokratie, deren historische Aufgabe es gewesen wäre, diesen Konflikt zu analysieren und auf die politische Tagesordnung zu bringen, hat genau das nicht getan, sondern sich lieber in die Phalanx der gegenseitigen Schulterklopfer eingereiht. Dass sich jetzt der Protest vieler "Bestandsbürger" nun ausgerechnet bei der AfD bündelt, ist traurig, aber eigentlich nicht überraschend.

Nach der Bundestagswahl waren die Vorsitzenden der grossen Koalition der Selbstgefälligen (CDUCSUSPDFDPGrüne) in der sogenannten Elefantenrunde schnell dabei, die "Gemeinsamkeit der Demokraten" (=sie selber) gegen die "Rechtspopulisten" (=die AfD) zu reklamieren. Dass der Einzug der AfD in den Bundestag gerade auch durch die bisherige Politik (von CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne) verursacht war, blieb der Vertreterin der Partei Die Linke vorbehalten zu sagen.

Freilich werden auch die Linken allgemein (in der gleichnamigen Partei und ausserhalb) nicht umhin können, sich wieder intensiver mit Nation und nationaler Kultur auseinanderzusetzen. Bei aller begrifflichen Schwammigkeit (der Kultur) und aller erhofften Internationalisierung ("Nationalstaat überwinden") wird dies noch auf Jahre und Jahrzehnte der Rahmen sein, in dem sich sinnvolle und für die Menschen relevante Politik abspielt. Und es ist möglicherweise die letzte Bastion, von der aus man der "Internationale des Neo-Liberalismus" überhaupt Widerstand leisten kann.



8. Nationale Zukunft?

Die Verachtung, die aus Artikeln wie denen des Herrn Jessen aus der ZEIT spricht, könnte man vielleicht zu einem Satz komprimieren: "Eure deutsche Provinz-Kultur kotzt mich an" *8.

Solchen unerschütterlichen Eliten-Adepten sind wahrscheinlich nicht davon zu überzeugen, dass eine nationale Kultur und eine nationale Politik durchaus ihren Sinn haben könnten.

Dann nämlich, wenn sie mit progressiven Inhalten gefüllt wäre, wenn sie also beispielsweise den bekannten Satz Willy Brandts *9 erweitern würde zu "von deutschem Boden sollen Frieden und Entspannung" ausgehen.

Wenn eine deutsche Regierung jegliche Unterstützung am "targeted killings"-Drohnen-Programm verweigern und folgerichtig den US-Stützpunkt Ramstein schliessen liesse. Wenn der deutsche UNO-Botschafter demonstrativ den Saal verlassen würde, wenn ein US-Präsident damit droht, ein ganzes Volk auslöschen zu wollen. Wenn ein umfassendes Programm zur Rüstungskonversion eingeleitet würde, damit Krauss-Maffei wieder Lokomotiven statt Panzer herstellt. Wenn Russland nicht mehr konsequent aus aller europäischen und internationalen Kooperation ausgeschlosssen, sondern im Gegenteil zu dieser eingeladen werden würde.

Wenn wenn wenn…



Dann könnte man tatsächlich und aus gutem Grund stolz sein auf dieses Deutschland - und natürlich könnten Briten, Franzosen, Italiener usf. ebenfalls stolz sein, wenn ihre Regierungen in ein solches "Friedenskonzert" mit ihren je eigenen Akzenten einstimmen würden.

Eine Utopie? Ja sicher. Eine Vision? Möglicherweise - aber eine, wegen der man nicht zum Arzt muss. Eine Unmöglichkeit? Ich hoffe nicht …



(Sept.-Okt.2017)



*1 Das Thema "Effizienz"-Steigerung taucht in Macrons Reden übrigens mehrfach auf. Zwar kann, wer will, quasi die ganze Geschichte als fortwährende Effizienz-Steigerung deuten. Von den rumpeligen Holzscheiben-Rädern der Sumerer über die Speichenräder der römischen Streitwagen weiter zu den filigranen Laufrädern der Rokoko-Kutschen bis zum mehrteiligen Alu-Rad eines heutigen Formel1-Boliden - ein scheinbar unaufhörlicher Ablauf zu mehr Effizienz. Aber Effizienz kann auch tödlich sein (Heydrichs GeStaPo) oder krank machen (vgl. die Selbstmord-Serie in den hocheffizienten chinesischen Foxconn-Fabriken). Sie zum vorrangigen Ziel staatlichen Handelns zu erklären, ist m.E. krank.

*2 vgl. "Die Zeit" Nr. 37/2017

*3 siehe www.nachdenkseiten.de

*4 Der regelmässige Leser erkennt die Anspielung: Sebastian Haffner charakterisierte Hitlers Beziehung zum Staat wie folgt: ""Hitler hielt nichts vom Staat und verstand nichts vom Staat"


*5 Für die französische Kultur bleibt die Definition genauso offen: Sind es opulente Mahlzeiten, die Chansons von Piaf und Becaud oder die Traktate von Voltaire und Sartre?

*6 Beim 2012er US-Präsidentschaftskanditaten Mitt Romney kamen dessen offhore-accounts zur Unzeit an die Öffentlichkeit. Eine hübsche und immer noch treffende Persiflage darauf liefert das "Romney-Girl" in diesem Video: www.youtube.com (Zitat: "life is taxless, tax shelters everywhere...")

*7 Regis Debray: "Mythos Europa" (in "Le Monde diplomatique" Ausgabe August 2017)

*8 sozusagen als Variante des bekannten "Eure Armut kotzt mich an."

*9 "Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen"