J'aime europe - oder:

Nationalstaaten als Chance


Imagine there's no countries - it isn't hard to do;

Nothing to kill or die for - and no religion, too;

Imagine all the people - living life in peace.

(John Lennon - Imagine)



A Als der frischgewählte Bundespräsident Gustav Heinemann im Rahmen eines Interviews 1969 gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, antwortete er entschlossen "Ich liebe meine Frau!". Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass mit der Frage der deutsche Staat *1 gemeint war. Und Heinemann brachte mit seiner Antwort sehr treffend zum Ausdruck, dass "Liebe" im Verhältnis zum Staat (dem deutschen, dem italienischen, französischen oder irgendeinem Staat) eben die falsche Kategorie ist. Staaten sind Organisationseinheiten, und als solche müssen sie funktionieren.

Das sagt zunächst einmal noch nichts darüber aus, wie die Staaten funktionieren sollen, und welche Funktionen die Staatsbürger der Organisation "Staat" überantworten möchten - dazu noch später.

Freilich kann "Liebe" zu Deutschland (oder zu Frankreich oder Mali oder was auch immer) auch etwas anderes bedeuten, nämlich eine Sympathie oder Anhänglichkeit zu einem Land - sowohl zu den Menschen, ihren Bräuchen, ihrer "Kultur" als auch zur Landschaft an sich - den malerischen Hügeln des Elsass oder den schroffen Küsten Schottlands (um 2 Beispiele zu nennen).

Perfiderweise werden Politiker, wenn sie Patriotismus für Ihre Zwecke einspannen wollen, den Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien ganz bewusst verwischen wollen. Denn natürlich wird das Gefühl (die "Heimatliebe") in einer möglichen Konfliktsituation mit dem Verstand den Sieg davontragen. Wenn beispielsweise ein Soldat in den Schützengräben des ersten Weltkrieges daran zweifelte, ob das Töten nur um der Annexion irgendeiner Provinz willen noch Sinn mache, so musste man ihn nur wieder daran erinnern, dass er ja für Wohl und Wehe seiner Angehörigen, für die Unversehrtheit seiner Heimat kämpfe - und meist waren dadurch die Zweifel zerstreut.

Im dem Sinne, dass ich Sympathie für die Menschen, Bräuche und Kulturen empfinde, kann ich durchaus "Liebe" nicht nur zu Deutschland, sondern zu ganz Europa bekunden. Ist es nicht ganz erstaunlich, dass man hier in Europa praktisch "alle naslang" über Zeugnisse einer mehrtausendjährigen Geschichte stolpert, unterschiedlichste Bräuche pflegt, sich mit den unterschiedlichsten Naturgewalten ganz verschieden auseinandergesetzt hat ?

Und ist es nicht ebenso spannend, dass die unterschiedlichen Sprachen auch teilweise unterschiedliche Denkweisen im Gefolge haben?

Und wenn ich es recht überlege, kann ich diese Art von Liebe vielleicht auch für die US-Amerikaner und ihr Land aufbringen: Die unkomplizerte Art von Gastfreundschaft, die vorherschende "can-do"-Attitüde, aber auch z.B. die grosszügigen Nationalparks - das ist schon bewundernswert.

Und es steht ja auch jedem frei, diese Art von Liebe einem Land und einer Kultur seiner Wahl entgegenzubringen: Australien, Belgien, Cypern, Dschibouti, Estland, Frankreich und so fort - überall wird es (auch) liebenswerte Menschen und interessante Kulturen geben.

Und wenn wir zum Bereich der Anhänglichkeit an die (Wahl?)Heimat kommen, so ist auch diese für sich genommen ja nichts schlechtes. Nur die Übersteigerung als Nationalismus oder "jingoism" ist natürlich abzulehnen, wenn also das eigene Land oder der eigene Staat als anderen per se überlegen oder vorrangig dargestellt wird.

Kommen wir aber zurück zur Funktion des Staates als Organisationseinheit.




B John Lennon dichtete in seinem bekannten Lied "Imagine" von einer Zukunft "without countries", was in diesem Fall wohl auch ohne Staaten meinte - geht das überhaupt ?

Nun - irgendeine Art gesellschaftlicher Ordnung und eine Institution, die sie sicherstellt, werden die meisten Menschen zumindest in den dichter besiedelten Regionen unseres Planeten schon haben wollen. Auf irgendeiner Südseeinsel oder einer fast menschenleeren Gegend in den Wüsten Nebraskas mag man sich ein staatsloses Dasein vielleicht vorstellen können, aber in den meisten besiedelten Landstrichen würden eine verbindliche Rechtsprechung, Polizei und Justiz (die dieselbe zur Geltung bringen), geplante Verkehrswege, Gesundheitswesen und eine Vielzahl anderer staatlicher "Dienstleistungen" dringend vermisst werden.

So muss, realistisch betrachtet, Lennons "Imagine" ein schöner Traum bleiben. Das "was" und "wie" der staatlichen Zuständigkeiten ist aber durchaus verhandelbar. Ebenso ist natürlich zunächst einmal offen, welchen geografischen Bereich so ein Staat überhaupt abdecken soll.

In Europa haben wir uns daran gewöhnt, "Staat" mit "Nationalstaat" gleichzusetzen, einfach weil das bei den meisten europäischen Staaten so der Fall ist. Aber natürlich kann es auch "Multi-Nationen-Staaten" oder "Vielvölkerstaaten" geben - neuere Beispiele wären das ungarisch-österreichische k.u.k.-Reich oder Yugoslawien, ein frühes Beispiel das Reich der römischen Könige (wenngleich der Staatsgedanke damals ein anderer war). Und wenn wir vom strikten Nationen-Begriff zum weitergehenden "Ethnien" wechseln, dann sind auch so verschiedene Staaten wie Israel, Syrien und die USA eben multi-ethnische "Reiche".

Das römische Reich, die k.u.k.-Monarchie und die USA zeigen, dass auch solche Multi-Nationen- oder Multi-Ethnien-Reiche durchaus "erfolgreich" sein können, zumindest für gewisse geschichtliche Perioden (wobei "erfolgreich" natürlich ganz verschiedene Eigenschaften umfassen kann).

Staaten bleiben also eine Notwendigkeit. Andererseits ist auch verständlich, dass gerade Deutsche mit Sinn für Geschichte dem Nationalstaat gegenüber sehr reserviert sind - war doch das "Dritte Reich" ohne Zweifel eine zivilisatorische Katastrophe und hat unermesslichen Schrecken und Vernichtung über Deutschland und Europa und darüber hinaus gebracht.

Vielen erscheint die "Überwindung der Nationalstaaten" das richtige Gegenmittel zu sein, und folgerichtig möchten diese Leute die "EU stärken", wenngleich es über die konkrete Ausgestaltung derselben dann doch wieder sehr divergierende Ansichten gibt.

Nachfolgend ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Punkte, die dem Nationalstaat üblicherweise zur Last gelegt werden und deshalb seine "Überwindung" notwendig machen sollen:



1. Nationalstaaten würden automatisch Nationalismus befördern, worauf ja auch die semantische Nähe der Begriffe hinzuweisen scheint.

2. Durch den Nationalismus aufgestachelt, würden die Nationalstaaten sozusagen zwanghaft immer wieder kriegerische Konflikte provozieren.

3. Wo Nationalstaaten doch Bündnisse wie die EU eingingen, würden sie dieselben durch die Verfolgung von "nationalen Egoismen" ständig behindern.

4. Nationalstaaten könnten nie so "weltoffen" sein wie "supranationale Verbünde".

5. Nationalstaaten würden die globale Wirtschaft behindern.



Im Folgenden also der Versuch, auf alle diese Argumente einzugehen.




C Ohne Zweifel wurde und wird Nationalismus von Staaten angewandt, um die berüchtigte "nationale Geschlossenheit" zu erreichen. Und dies meist in Kriegs- und Vorkriegszeiten, wo mit Nachdruck nationale Propaganda betrieben wird, eben um kriegsbereit und kriegsfähig zu sein. So wurde etwa im wilhelminischen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Werbekampagne (mit passender Kindermode!) gefahren, um die so energisch betriebene Aufrüstung insbesondere der Hochseeflotte rechtfertigen und umsetzen zu können. Und in Kriegszeiten ist der Appell an nationale Emotionen der naheliegendste, wenn man die "Wehrfähigkeit" aufrecht erhalten will. Aber - wer keinen Nationalstaat hat und trotzdem ein "wir gegen die"-Gefühl aufbauen will, kann auch auf anderer Grundlage mobilisieren. Es bieten sich insbesondere an Rasse oder Hautfarbe ("wir Europäer gegen die 'gelbe Gefahr'") oder Religion ("wir Lutheraner gegen die Papisten", "wir Sunniten gegen die Schiiten" …).

Aber die Annahme, dass Nationalstaaten automatisch oder notwendigerweise nationalistisch sein müssten, ist definitiv falsch. Dazu gibt es zu viele Staaten, die immer oder wenigstens die letzten hundert Jahre nie aggressiv nationalistisch waren, z.B. Norwegen, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Kanada, Libanon oder Uruguay (wobei auffallen könnte, dass es meist kleinere Länder sind).

Aber sind es nicht doch immer wieder die Nationalstaaten, die Kriege führen? Hat nicht Österreich Serbien den Krieg erklärt, hat nicht Japan die USA angegriffen und Italien Ehtiopien, haben nicht Deutschland und Frankreich mehrfach Krieg gegeneinander geführt? Sind nicht doch die Nationalstaaten die Ursache für dieses scheinbar nicht enden wollende Gemetzel? Wenn die Nationalstaaten abgeschafft würden, wenn sie aufgehen in einem "supranationalen" Verbund, dann wird es niemals wieder Krieg geben. Klingt logisch, nicht wahr?

Wer meine obige Aufzählung genau liest, findet schon ein kleines Haar in der Logik-Suppe. Denn das Österreich von 1914, dass so "frivol" (S. Haffner) dem kleinen Serbien den Krieg erklärte, war ja nun gerade kein Nationalstaat, sondern die k.u.k.-Doppelmonarchie. Zwar war es ebensowenig wie die anderen Monarchien des Kontinents wirklich demokratisch organisiert - aber die Leitungsfunktionen waren schon recht gleichmässig unter den Eliten der beiden namensgebenden Länder (Österreich und Ungarn) aufgeteilt, ein mindestens bi-nationaler Staat also.

Die Ursache, warum Staaten (und in Europa mit seinen vielen Nationalstaaten eben diese) immer wieder in kriegerische Konflikte kommen, liegt aber ganz woanders:




D Es ist eigentlich eine logische Folge der (zumindest in Europa) vorherschenden Überzeugung, dass der Staat das Gewaltmonopol innehaben sollte. Genau dadurch kann er die internen Konflikte seiner Staatsbürger (meistens) gewaltfrei lösen. Dazu gehört, dass i.d.R. nur staatliche Instanzen Zugriff auf tödliche Waffen haben sollten, neben dem Militär eben die Polizeien. Und dass alle zivilen Waffenträger mindestens staatlich kontrolliert werden können und diese Waffen nur für streng definierte Zwecke (z.B. als Förster) einsetzen dürfen *2.

Wenn aber die Staaten das Gewaltmonopol haben, dann folgt daraus zwingend, dass sie zwischenstaatliche Konflikte, wenn sie nicht friedlich lösbar sind, mit Gewalt werden austragen müssen.

Und der Knackpunkt ist natürlich, ab wann die Staatsführungen Konflikte als nicht mehr friedlich lösbar erachten. Wenn wir wieder zurück zu 1914 gehen, dann fällt ja bei genauerer Analyse auf, dass Österreich-Ungarn dem obstinaten Serbien durchaus nicht den Krieg erklären musste. Es hätte ebensogut die diplomatischen Beziehungen beenden, die Grenzen zu Serbien abriegeln und z.B. die europäischen Nachbarstaaaten zu wirtschaftlichen Sanktionen aufrufen können. Im historischen Kontext ein zwar vielleicht nicht grandioser, aber durchaus möglicher Handlungsweg. Ebenso hätte das Deutsche Reich vor Ausstellung des berühmten Blankoschecks einmal eruieren können, wie denn die konkreten militärischen Planungen sowohl der Österreicher als auch der eigenen Militärs überhaupt aussahen und welche militärisch-politischen Auswirkungen sie wohl haben würden. Beidesmal hätte die Entscheidung statt "Krieg" sehr wohl anders aussehen können. Oder anders formuliert: Die Entscheidung zum Krieg war auch schlicht "handwerklich" schlechte Politik *3.

Nun hatten sich nach 1945 die wichtigsten Staaten zunächst zur EWG, dann zur EG und schliesslich zur EU zusammengeschlossen. Innerhalb dieser EWG/EG/EU seien es wiederum die Nationalstaaten, die mit ihren "nationalen Egoismen" immer wieder die europäische Einigung behindern würden - so sagen die EU-Befürworter.

Das ist insofern richtig, als man - zumindest in der Vergangenheit - davon ausgehen konnte, dass der französische Präsident die Interessen der Franzosen und der italienische Ministerpräsident diejenigen der Italiener zu wahren suchten, und entsprechend bei den anderen Nationen/Staaten. Auch sehr klar, dass die "europäische Regierung" sehr viel reibungsloser arbeiten könnte, wenn es diese nationalen "Friktionen" nicht geben würde. Wenn allerdings im Interesse der EU-"Geschlossenheit" die nationalen Regierungen ersatzlos abgeschafft würden, wer würde dann die spezifischen Interessen der Nationen oder "EU-Regionen" zur Geltung bringen? Denn was da oft so flott als "nationale Egoismen" abgestempelt wird, sind ja zum grossen Teil sehr reale unterschiedliche Interessen, die es halt in vielen Bereichen einfach gibt - ob es nun um Fischfangquoten in der Nordsee, Regularien für Finanzkonzerne, Umweltschutzstandards oder Industriepolitik geht.

Während zumindest in Deutschland das Recht der Bundesländer, ihre jeweiligen Interessen innerhalb der dafür vorgesehenen politischen Instanzen der BRD zu vertreten, praktisch unbestritten ist, soll dieselbe Interessenaushandlung auf EU-Ebene schlicht wegfallen? Oder möchte man ersatzweise ein ganz neues EU-Organ zur Vertretung der Interessen der Regionen (vormals Staaten) einführen?



E "Weltoffenheit", die den Nationalstaaten abgehen würde, ist offensichtlich ein Argument ganz anderer Kategorie als die Frage nach Nationalismus oder Bellizismus. Eigentlich eher etwas, welches man den persönlichen Tugenden zuordnen möchte. Wobei man auch zweifeln muss, ob diese "Weltoffenheit" schon für sich eine Tugend darstellt. So mag ein Vertreter eines multinationalen Konzerns, der die Produkte desselben auf 5 Kontinenten vertritt, ein Muster an Weltoffenheit sein - wenn aber die von ihm vertriebenen Produkte Landminen oder Streubomben sind, dann steht die "Tugend" Weltoffenheit offensichtlich einem sehr sinistren Geschäft zu Diensten.

Vielleicht reicht aber auch der Hinweis, dass historisch auch sehr kleine Nationen wie etwa die Niederländer oder die Schweden immer "weltoffen" waren, diese Tugend also durchaus nicht an die Supranationalität der EU gebunden ist.

Schliesslich sollen die Nationalstaaten, so das letzte Argument, die globale Wirtschaft behindern. Dies ist zumindest soweit richtig, dass sie dies, solange sie die Souveränität über ihre Handelsbeziehungen behalten, durchaus tun könnten. Freilich haben ja gerade die europäischen Nationen, schon vor der Metamorphose der EG zur EU, alle "handelsüblichen" Rezepte zur Wirtschaftförderung, auch des internationalen Handels, angewandt. Kaum erkennbar, wo und wie eine "vollendete" EU da noch überhaupt merkbare Unterschiede oder konkreter zusätzliches Wirtschaftwachstum generieren könnte.

Wenn wir die 5 vorgebrachten Argumente einmal gedanklich umkehren, wird klar, dass die EU durchaus kein festes Bollwerk gegen die vorgebrachten Gefahren ist.

Natürlich kann es (noch) keinen EU-Nationalismus geben, weil die EU defnitionsgemäss keine Nation ist. Aber es gibt schon ähnliche Rituale: Die EU-Fahne ist schon fast so präsent wie ehedem das Hammer-und-Sichel-Tuch in der untergegangenen DDR, die EU-Hymne (freundlicherweise eine deutsche Leihgabe) soll nun auch der einfache EU-Bürger auf allerlei Kundgebungen intonieren, und vor allem: auf allen Medienkanälen eine manchmal schon peinliche Selbstbeweihräucherung der EU-Eliten, wie hervorragend doch diese EU sei.

Offenbar hat es, gerade bei einem Teil der deutschen "Eliten", eine Art Transfer ehemals nationaler Ambitionen auf die EU gegeben. Danach soll eine (möglichst nach deutschem Gusto ausstaffierte) EU jene Ziele erreichen, an denen "Deutschland" alleine immer wieder gescheitert ist: Erst Beherrschung des europäischen Kontinents, dann "Weltgeltung" gegenüber den anderen Supermächten erreichen und schliesslich vielleicht eine hegemoniale Ausdehnung - vielleicht nach Osten, vielleicht nach Süden (zumindest kann man den auf der G20 präsenterten "Afrika-Plan" auch so interpretieren).




F Aber spätestens seit dem Friedennobelpreis an die EU scheint doch klar zu sein, dass die EU ein einmaliges "Friedensprojekt" sein muss. Allerdings hätten nach dieser Logik auch die USA einen "Nobel" verdient, denn auch die Staaten der Vereinigten Staaten haben überraschenderweise seit über 100 Jahren keine Kriege mehr untereinander geführt … ***

Welche inhärente Logik würde eine EU der Zukunft (in der Nationalstaaten schon längst vergessen sein mögen) davon abhalten, bei "passender" Konstellation z.B. einen Krieg gegen Lybien zu führen ? Wer ehrlich ist, muss sagen: Natürlich kann auch ein multinationaler Staat oder eine "supranationale" Gruppe Krieg führen.

Sind nicht, wenn man ehrlich ist, die "Interventionen" der grossen EU-Staaten in Lybien und Syrien eigentlich schon Kriege der EU (und/oder der ebenfalls supranationalen NATO)? Wobei hier streng nach dem "limited war concept" vorgegangen wird, also Militäreinsätze immer ausserhalb der eigenen Grenzen und mit minimalem Eigenblutverlust geführt. Und inwiefern wird die EU dadurch pazifistischer, dass man (wie z.B. nicht nur der ewige EU-Parlamentarier Elmar Brok) eine eigene EU-Streitmacht fordert oder - wie Macron und Merkel bei Ihrem letzten Treffen Mitte Juli - milliardenschwere Rüstungsprogramme initiiert?

Eine ernsthafte Friedenspolitik, die m.E. nicht nur möglich, sondern dringend geboten ist, wird doch von dieser EU überhaupt nicht verfolgt (siehe Ukraine, siehe Russland, siehe Syrien, siehe Lybien, siehe Afrika überhaupt).

Schliesslich, so die Vorstellung, würde eine "vollendete EU" allen nationalen Egoismen eine Absage erteilen. Allerdings würde ich vermuten, dass dieselben nahtlos durch einen EU-Eliten-Egoismus ersetzt würden.

Und dabei wäre die EU auch ungemein weltoffen, allerdings nur den Besitzenden gegenüber. Für die Superreichen und Superkonzerne wird sie noch mehr als bisher den roten Teppich ausrollen - für die Mittelmeerflüchtlinge wird man gerade soviel ausgeben, dass die allerhässlichsten Szenen vermieden werden, und über die Ertrunkenen deckt ja das Mttelmeer gnädig den Mantel der Wellen.

Folgerichtig wird die EU niemals dem "gottgegebenen" Willen der Märkte wirklich widersprechen wollen, die "Globalisierung" ist durch die EU nicht in Gefahr. Um die "Abgehängten" dieser Entwicklung sollen sich wohl die übriggebliebenen Reste der Sozialstaatlichkeit kümmern.

Dass trotz aller "Wirtschaftsfreundlichkeit" und energisch durchgesetzter "supply-side"-Ökonomie gerade die neue EU des 21. Jahrhunderts in ihren grundlegenden wirtschaftlichen Kenndaten (Wirtschaftswachstum und Beschäftigung) so schlecht dasteht, wenn man sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung der "souveränen" EG-Staaten (bis ca. 1980-1990) vergleicht, komplettiert das Bild einer schlicht auch funktional schlechten Organisation.




G Von den standhaften Verfechtern der Idee von der "Überwindung der Nationalstaaten" wird immer wieder ins Feld geführt, dass die EU auf ihrer derzeitigen Verfasstheit ja nicht stehenbleiben müsse und dass sie die (mehr oder minder offen zugegebenen) "demokratischen Defizite" irgendwann ausgleichen könne. Das ist im Prinzip nicht falsch - nur wie wahrscheinlich ist es? Dazu habe ich im Text

"Bekenntnisse eines pessimistisch-realistischen Optimisten"

schon einiges ausgeführt. Wer mit dem Blick auf eine irgendwann "wirklich" demokratische EU jetzt den Nationalstaat demontiert, ähnelt einem Schlauchbootbesitzer, der von einem Kreuzfahrtschiff träumt und, als er ein solches am Horizont erblickt, schon einmal beginnt, die Luft aus dem Schlauchboot abzulassen. Oder anders ausgedrückt:

Der Nationalstaat wird noch gebraucht!

Dass auch die Nationalstaaten vor Irrwegen und gefährlichen Entwicklungen nicht gefeit sind, ist unbestritten. Wie jede grössere Organisation können sie aufgrund innerer oder äusserer Umstände pervertieren, und es gibt genügend historische Beispiele dafür - der NS-Staat unter Adolf Hitler *4 ist das extremste davon.

Aber das ist alles andere als "automatisch" im Nationalstaat angelegt. Und eigentlich kennen wir eine Reihe probater Mittel, um diesen Irrwegen vorzubeugen - u.a. Gewaltenteilung, "checks and balances", Grundrechteschutz *5. Die Pflege und Bewahrung der demokratischen Institutionen, Verfahren und Traditionen, die solche Gefahren abwehren, bleibt - egal ob National- oder Multinationalstaat - eine Daueraufgabe.

Wenn die die ZEIT in der Ausgabe 28/2017 unter dem Titel "Der mächtige Staat" bedeutungsschwer ein unseliges Wiederauferstehen eines "Etatismus" ausmacht und dazu vollkommen unzusammenhängende Beispiele aus der Türkei, Russland, Venezuela und Syrien aufführt, dann kann man zusehen, wie ein Popanz aufgebaut wird.

Natürlich kann ein Staat zu mächtig sein - aber die Evidenz im 21. Jahrhundert ist ja eine ganz andere: da ist der Staat allzuoft zu schwach, um seine Bürger vor einem extremistischen System wirtschaftlicher Ausbeutung zu schützen *6.



H Heisst das nun, dass die Bürger Europas auf Ewigkeit dazu verdammt sind, ihr Leben in Nationalstaaten zuzubringen? Natürlich nicht; auch die heutigen Nationalstaaten sind in der Regel aus kleineren Regionen (Fürstentümern etc.) erst zusammengewachsen, und ein Zusammenwachsen in anderen Organisationsformen als der EU (oder einer radikal anders organisierten EU) bleibt ja durchaus eine Möglichkeit.

Einigen der EU-"Gründerväter" schwebte wohl tatsächlich eine wirkliche politische Union ähnlich den USA vor, ohne aber einen sinnvollen Plan zu haben, wie man dieses Ziel denn erreichen könne. Die anfänglich nur aus pragmatischen Gründen erfolgte Fixierung auf das Wirtschaftliche hat aber eine Eigendynamik entwickelt, die dafür gesorgt hat, dass die Entwicklung der EU heute nicht mehr von Politikern, sondern von Wirtschaftverbänden bestimmt wird und die EU im Zweifelsfall eben gegen die Bevölkerung agiert (sehr gut an den mit hohem Aufwand betriebenen "Freihandels"-Abkommen wie CETA, TTIP, JEFTA etc. zu sehen).

Diese Fehlentwicklung ist m.E. nicht mehr zu korrigieren. Es ist an der Zeit, den Schaden zur Kenntnis zu nehmen und, etwas pathetisch formuliert, ein neues "europäisches Haus" zu bauen. Eines, in dem Soziales und Humanes wieder Vorrang vor kurzfristiger Mikro-Ökonomie hat. Eines, das keine Angst vor nationalen Traditionen und Kulturen hat und dieselben nicht aus lauter Sorge um Effizienzverluste schleifen oder durch eine transatlantische Leih-Kultur ersetzen will.

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Wer sich etwas fundierter mit dem Thema auseinandersetzen will, empfehle ich deshalb u.a. die Artikelserie in MAKROSKOP:

Demokratie und Nationalstaat 1

Demokratie und Nationalstaat 2

Demokratie und Nationalstaat 3



(Juli 2017)



*1 Im Jahre 1969 existierten selbstverständlich zwei deutsche Staaten. Gerade in der BRD war es aber damals infolge der Hallstein-Doktrin (der sogenannte Alleinvertretungsanspruch) durchaus üblich, die BRD mit "Deutschland" gleichzusetzen.

*2 In den USA gibt es allerdings nicht wenige Bürger, die - oft unter Berufung auf das Second Amendment ("...well regulated militia... the right to bear arms...") dieses Gewaltmonopol mindestens für die Bundesregierung abstreiten. Ziemlich folgerichtig halten sie auch alle gesetzlichen Einschränkungen von Waffenerwerb oder -Besitz für unrecht. Ich hoffe sehr, dass die USA die Folgen dieses gedanklichen Irrwegs und der unseligen Waffenfixierung nicht irgendwann in Form eines Bürgerkriegs zu spüren bekommen - der würde nämlich ausgesprochen blutig werden.

*3 Über das komplizierte Interessengeflecht und die spezifischen historischen Umstände des Kriegsausbruchs vom August 1914 sind reihenweise dicke Wälzer geschrieben worden. Es geht mir hier nicht darum, die darin niedergelegten Thesen pauschal anzweifeln zu wollen - ganz im Gegenteil. Es bleibt aber das Faktum, dass die politischen Führungen der verschiedenen Staaten - auch unter Berücksichtigung der spezifischen historischen Umstände - meist durchaus anders hätten entscheiden können, und Deutschland und Österreich-Ungarn als den Kriegsauslösern kommt da die grösste Verantwortung zu.

*4 Wobei Hitler der Staat selbst eigentümlich egal war ("Hitler hielt nichts vom Staat und verstand nichts vom Staat" - S. Haffner) - für ihn war entscheidend, mit dem Staat ein Eroberungsinstrument, die Armee, zu bekommen. Als das Volk, welche diese Armee zu stellen und zu untertützen hatte, gegen Ende des Krieges "versagte", konnte sich Hitler ohne Sentimentalitäten von diesem Volke lossagen ("es soll vergehen...").

*5 Bezeichnenderweise sind diese Begriffe praktisch nie Teil der Diskussionen um die EU. Und wenn, so wird von EU-Propagandisten darauf hingewiesen, dass die EU "noch kein Staat" sei oder als "supranationale" Institution darauf verzichten könne. Nur - wenn die Nationalstaaten immer mehr Befugnisse an die EU abtreten sollen, dann müssten eben auch diese Anforderungen in der EU erfüllt sein.

*6 Dieser staatliche Substanzverlust wird kompensiert durch eine geradezu überbordende Regel- und Überwachungswut in Bezug auf die normalen Bürger. Fernlesbare Ausweise, Staatstrojaner, Vorratsdatenspeicherung, umfassende Videoüberwachung, automatisierte Kennzeichen- und Gesichtserkennung würden den "Big Brother" von Orwells Roman "1984" vor Neid erblassen lassen. Aber obwohl dieser staatliche Aktionismus am liebsten mit Terrorabwehr begründet wird, werden die realen Attentäter dann allzuoft trotzdem nicht entdeckt.



*** Korrektur:

In der ersten Fassung diese Textes lautete der Halbsatz: "...denn auch die Staaten der Vereinigten Staaten haben überraschenderweise seit Gründung keine Kriege mehr untereinander geführt …". Diese Fassung war inkorrekt, da ja 85 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung der US-Bürgerkrieg bzw. Sezessionskrieg ausbrach. Es würden sich aber noch andere Staatenbünde oder Bundesstaaten aufführen lassen, bei denen die Mitglieder ab Gründung keine Kriege mehr gegeneinander führten (das Vereinigte Königreich, die Schweiz, Indien etc.) Das ist ja auch nicht überraschend, da das Ziel des Bundes ja gerade die Einheit gegenüber äusseren Rivalen ist. Einem solchen Staatenbund das Fehlen von Kriegen zwischen den Mitgliedern als besondere Leistung zu bescheinigen, ist m.E. absurd.