Wenn das die Kanzlerin wüsste...

(oder: "Gefühlte Politik")


An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.

(Die Bibel, 1.Johannes 2, 1-6)


1. Dass manche Menschen sich bei Ihren Wahlentscheidungen vornehmlich von Gefühlen leiten lassen, ist altbekannt. Bislang glaubte ich, dieses Phänomen sei vornehmlich auf wenig gebildete oder hoch-emotionale Menschen beschränkt und würde, je besser und allgemein zugänglicher Bildung werde, irgendwann kaum noch Belang haben.

Eine kürzliche eMail-Korrespondenz mit einem Leser dieser Seiten zeigt mir jedoch, dass diese Art "gefühlter Politik" auch auf sehr gebildete Menschen zutreffen kann. Dem Leser ging es darum, dass er sich von Frau Merkel gut vertreten gefühlt habe, ihm gefiel das persönliches Auftreten eines Martin Schulz, und er konnte sich auch gut mit dem neuen SPD-Hoffnungsträger identifizieren und so fort.

Da ich auf diesen Seiten ja sehr bemüht bin, alle Argumente mit Fakten und Belegen zu untermauern, war ich darüber sehr erstaunt. Liege ich vielleicht nicht richtig damit, dass man seine Wahlentscheidungen doch zuvorderst an Fakten, Erklärungen und erkennbaren Strategien der Politik-Akteure ausrichten sollte? Und nicht an (sehr subjektiven) Sympathien und Äusserlichkeiten?


Möglicherweise bringt uns die Betrachtung der medialen Vermittlung, die unserer Kanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, zuteil wird, da weiter. Im Verlaufe Ihrer langen Karriere ist ja immer wieder zu beobachten, dass alle Gefühle von Verärgerung, die die Bevölkerung gelegentlich ihrer jeweiligen Regierung gegenüber aufbringt, an ihr nicht "haften" bleiben (weswegen auch schon der Begriff der "Teflon"-Kanzlerin aufkam).

So war etwa der Beginn der "schwarz-gelben" Regierungskoalition (2009-2013) von so vielen Pannen und Zwistigkeiten ("Chaos"- oder "Gurken-Truppe") überschattet, dass damalige Umfragen "Unzufriedenheit mit der Regierung" bei über 60% der Bundesbürger ermittelten - aber gleichzeitig über 60%-ige Zustimmungswerte für die Kanzlerin. Es schien, als ob den "Leuten nicht klar sei, dass Frau Merkel zu dieser Regierung gehört" (Volker Pispers).

Vielleicht lässt sich dieses Phänomen besser ergründen, wenn wir ein naturgemäss hoch-emotionales Thema und die Behandlung desselben duch Frau Merkel betrachten.



2. Am 23. Februar 2012 hielt Frau Merkel auf der Trauerfeier für die vom sogenannten "NSU" ermordeten Opfer eine vielbeachtete Rede.

Den Wortlaut der Rede hat u.a. die Süddeutsche Zeitung dokumentiert (z.Zt. hier abrufbar: http://www.sueddeutsche.de/politik/merkels-gedenkrede-... ).

Es gibt auch Videoaufzeichnungen davon, etwa hier: https://www.youtube.com/...

Um es kurz zu fassen: Die Rede ist prima facie sehr gut - Frau Merkel drückt ihre Trauer aus, geht auf das Leid der Angehörigen ein, geisselt die Menschenfeindlichkeit der Täter, beklagt die Ermittlungsversäumnisse und bittet gar um Entschuldigung für falsche Verdächtigungen seitens der Behörden. Und das alles vorgetragen nicht mit kühler Routine, sondern mit Empathie.

Viel besser kann man es sich von einem Politiker kaum vorstellen, möchte man meinen - aber wir kommen noch darauf zurück.



3. Adolf Hitler war, auch wenn es wenige Jahre später kein Deutscher mehr wahrhaben wollte, Mitte/Ende der 1930er Jahre der beliebteste Politiker in Deutschland. Mit ein Grund für diese Popularität war das erstaunliche Wirtschaftswunder, welches unter seiner Führung aus einem schwer von der Weltwirtschaftskrise getroffenen Land binnen weniger Jahre ein vor Produktivität brummendes Land mit Vollbeschäftigung gemacht hatte. Und auch viele andere Seiten seiner Politik waren populär: die Wiederbewaffnung, die Aufkündigung der "Versailler Diktatverträge", auch die zwangsweise "Harmonisierung" des politischen Lebens durch Parteienverbote und allgemeine "Gleichschaltung".

Aber es gab auch immer wieder Nachrichten und Berichte, die auch den begeistertsten Anhängern nicht gefallen konnten, etwa über Misshandlungen in Konzentrationslagern oder hemmungslose Bereicherungsakte von NSDAP-Funktionären.

Eine ganz häufige Reaktion dieser Hitler-Anhänger war dann der Satz "...wenn das der Führer wüsste...". Denn das konnte ja eigentlich nicht sein, dass der bewunderte Führer von solchen Missetaten wusste oder sie gar billigte.

Psychologisch nicht schwer zu erklären: Da diese Menschen die Person A.H. schon vor einiger Zeit eindeutig dem Lager der GUTEN zugeteilt und dies auch vielfältig im Bekanntenkreis oder gar öffentlich kundgetan hatten (man denke z.B. an den Jubel beim "Anschluss" Österreichs), konnten sie nicht plötzlich dieselbe Person zum SCHURKEN erklären. Sonst hätten sie ja ihrer eigenen Menschenkenntnis ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Also musste die bewunderte Person als unschuldig oder wenigstens ahnungslos dargestellt werden - was sich dann in der Redewendung "wenn das der Führer wüsste" ausdrückte.



4. Als Angela Merkel die oben angeführte Rede hielt, war sie schon über 6 Jahre Kanzlerin, über 14 Jahre Vorsitzende der CDU und seit mindestens 22 Jahren in der Bundespolitik tätig (MdB seit 1990) - mit anderen Worten ein "Vollprofi".

Man sollte meinen, dass es der Kanzlerin bekannt war, dass die beiden Geheimdienste des Bundes - BND und Verfassungsschutz - nicht nur dem Kanzleramt berichtspflichtig sind, sondern vom Kanzleramtsminister (dem typischerweise engsten Mitarbeiter der Kanzlerin) "koordiniert" oder gesteuert werden. Ebenso sollte ihr bekannt gewesen sein, dass die Bundesanwaltschaft weisungsgebunden handelt, und dass die Weisungen vom jeweiligen Bundesjustizminister (bzw. der Ministerin) kommen. Und eben jener Justizminister ist wiederum der Kanzlerin nicht nur berichtspflichtig, sondern erhält von ihr mindestens die "Richtlinien der Politik". Ähnlich verhält es sich mit dem Innenminister und seiner Aufsicht über Bundeskriminalamt und Bundespolizei. Schliesslich wird die Kanzlerin nicht nur Einblick in den sozusagen "Sollzustand" der Zusammenarbeit der Landesämter für Verfassungsschutz mit dem Bundesamt haben, sondern auch in die "Amtswirklichkeit".

Mit diesem Kenntnis- und Erfahrungsschatz ist sie damals also zum Rednerpult gegangen. Betrachten wir mit diesem Hintergrund einige Sätze dieser Rede:



Redeauszug: "Manchmal rütteln uns Berichte über skrupellose rechtsextremistische Gewalttäter auf. Für einige Tage bestimmen sie die Schlagzeilen der Nachrichten. …. Wir vergessen zu schnell - viel zu schnell."

Hier leitet die Kanzlerin einen Fokusschwenk ein - hin auf ein "wir" der Bürger und weg von einem "wir in der Regierung".

Redeauszug: "Denn die Hintergründe der Taten lagen im Dunkeln - viel zu lange. Das ist die bittere Wahrheit. Nur wenige hierzulande hielten es für möglich, dass rechtsextremistische Terroristen hinter den Morden stehen könnten, nachdem bislang für typisch gehaltene Verhaltensmuster von Terroristen, wie zum Beispiel Bekennerschreiben, nicht vorlagen. Das führte stattdessen zur Suche nach Spuren im Mafia- und Drogenmilieu oder gar im Familienkreis der Opfer."

Wenn es "nur wenige für möglich" hielten", dann, so legt der Satz nahe, kann die Kanzlerin kaum dafür verantwortlich gemacht werden, wenn auch sie es "nicht für möglich" hielt. Dabei ist für kriminalpolizeiliche Ermittlungen recht unwesentlich, ob "viele" oder "wenige" etwas für möglich hielten - es muss halt zuerst einmal in alle Richtungen ermittelt werden. Das Interessante an der Ermittlungsgeschichte bei den NSU-Morden ist gerade, dass selbst abstruse Ansätze (z.B. die angebliche Mafia-Verbindung eines Blumenhändlers) intensiv verfolgt wurden, die recht naheliegenden eines ausländerfeindlichen Attentats aber nicht oder viel zu spät.

Im Nebensatz erklärt uns die Kanzlerin, dass Bekennerschreiben "für typisch gehaltene Verhaltensmuster" seien. Dabei könnte man doch z.B. bei Mafiamorden sehen, dass statt Bekennerschreiben genau der immer wiederholte "modus operandi" die Botschaft übermittelt. Oder, wie es in einem TV-Dokudrama hiess: "Sie haben doch eine Botschaft hinterlassen - sie haben immer die gleiche Pistole verwendet."



Redeauszug: "Und wie wird man fertig mit der Skepsis, ob die Sicherheitsbehörden wirklich alles Menschenmögliche tun, um den Mord an dem Nächsten aufzuklären?! "

Genau diese Skepsis wird die Kanzlerin in den Folgesätzen zu zerstreuen versuchen.



Redeauszug: "Erste Weichen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei sowie zwischen den Landes- und Bundesbehörden sind gestellt."

Zwischen den Beginn der Mordserie und dem Ende der angeblichen Täter in Erfurt lagen 11 Jahre. Schön, dass dann "erste Weichen" gestellt wurden...



Redeauszug: "Wann immer Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden, verletzt das die Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verletzt es die Werte unseres Grundgesetzes. Deshalb waren die Morde der Thüringer Terrorzelle auch ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land."

Dass der "NSU-Komplex" eine Schande für unser Land ist - dem kann man zweifelsohne zustimmen. Ob aber nun gleich die "Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung" bedroht werden, wenn irgendwo jemand "ausgegrenzt" wird, erscheint mir doch etwas übertrieben. Oder ist der Türsteher an einer Disco per definitionem ein Verfassungsfeind?

Die rhetorische Überhöhung hat freilich einen Sinn, der nachfolgend noch deutlicher wird.


Redeauszug: "Zu meiner Arbeit als Bundeskanzlerin gehört es, dass ich mir Videos von Tätern, zum Beispiel bei Geiselnahmen, gelegentlich persönlich anschaue. Ich habe mir auch das Video angeschaut, das jetzt im Zuge der Ermittlungen gegen die Thüringer Terrorzelle entdeckt wurde. Es ist mit Elementen der bekannten Zeichentrickfilmserie mit dem rosaroten Panther gestaltet worden. In diesem Video prahlen seine Macher mit den Morden und verhöhnen die Opfer. Etwas Menschenverachtenderes, Perfideres, Infameres - sofern es solche Steigerungsformen überhaupt gibt - habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen."

Viele Wörter werden hier gebraucht, um die NSU-Mörder zu nie gesehenen Horrorbestien zu stilisieren. Etwas Perfideres will die Kanzlerin noch nie gesehen haben. Nun habe ich im Gegensatz zur Kanzlerin nur die in den Nachrichten verwendeten Auszüge aus dem NSU-Bekennervideo gesehen. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass schon viel grausamere und menschenverachtendere Szenen über deutsche TV-Bildschirme geflimmert sind - von den wüsten Blutorgien in freiverkäuflichen Videospielen ganz abgesehen. Auch könnte die Kanzlerin bei ihrem nächsten Besuch in Saudi-Arabien z.B. den Wunsch äussern, einer der gerichtlich verordneten Steinigungen oder Enthauptungen beizuwohnen - auch das könnte an die Grenze der Belastbarkeit nicht nur des Magens gehen.

Aber es geht hier natürlich nicht um irgendeine Rangfolge der Scheusslichkeiten. Sondern der Zuhörer soll sich in der wohligen Gewissheit wähnen, dass das scheusslichste Mörderpaar auf deutschem Boden nun - praktischerweise von eigener Hand gerichtet - aus dem Verkehr gezogen und alles wieder "sicher" ist.



Redeauszug: "Wir müssen uns eingestehen, dass manchmal gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung stark ist, oft auch die vertrauten Strukturen der Jugendarbeit verloren gehen, das Freizeitangebot schwindet - und die Feinde unserer Demokratie das zu nutzen wissen."

Hier wird die Kanzlerin überraschend konkret, und die Analyse klingt auch recht stimmig. Aber man sollte fragen, ob Arbeitslosigkeit und Abwanderung einfach gottgewollte Schicksalsschläge sind, oder ob nicht gerade auch die Bundesregierung in der Verantwortung stand und steht, diese Übel zu bekämpfen. Und haben nicht aufeinanderfolgende Bundesregierungen wesentlich dazu beigetragen, den Kommunen immer mehr Lasten aufzubürden, aber gleichzeitig deren Einkommensbasis zu erodieren?



Redeauszug: "Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert. Doch mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Die Sicherheitsbehörden benötigen Partner: Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen - eine starke Zivilgesellschaft."

Da ist er wieder - der Schwenk vom staatlichen Regierungs-wir zum Bürger-wir. Und auch das diesbezügliche Modewort "Zivilgesellschaft" darf nicht fehlen. Nur ist die Trennung zwischen "Staat" und "Zivil" in diesem Zusammenhang ja künstlich - in einer Demokratie gehören der Staat, seine Behörden und seine "Staatsdiener" natürlich auch zur Gesellschaft.

Redeauszug: "Tagtäglich setzen zahlreiche kleine und größere Initiativen in unserem Land Zeichen gegen Hass und Gewalt. Ins Leben gerufen wurden sie von couragierten, mutigen Menschen."

Nichts gegen das Lob auf couragierte, mutige Mitmenschen, die sich in Initiativen betätigen (auch wenn die Adjektive etwas tautologisch sind). Aber der entscheidende Punkt beim NSU war ja, dass der Staat respektive seine zuständigen Organe mindestens "weggesehen" hat bzw. haben.



Redeauszug: "Der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung muss täglich geführt werden - in Elternhäusern, in der Nachbarschaft, in Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, in religiösen Gemeinden, in Betrieben. Überall sollten wir ein feines Gehör und Gespür für die kleinen Bemerkungen, die hingeworfenen Sätze entwickeln. So manche Bemerkung nimmt man schnell mal auf die leichte Schulter - nach dem Motto: Der oder die meint das doch nicht so ernst."

Nun wird es noch konkreter, was denn nun die Zivilgesellschaft leisten soll: ein feines Gehör und Gespür entwickeln für "hingeworfene" Sätze. Auch das ist zunächst einmal nicht falsch - aber in Bezug auf den NSU wieder ablenkend. Denn Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe und ihre "Kameraden" vom Thüringer Heimatschutz haben ja (bevor sie "abtauchten") jedem ihre NS-Parolen ins Ohr geschrieen, der nicht schnell genug weglaufen konnte (und auch auf diversen Flugblättern etc. schriftlich festgehalten).



Redeauszug: "Deutschland hat diese Erfahrung in seiner Geschichte immer wieder gemacht. Denn es ist auch eine Geschichte der Auswanderung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffenheit und seiner Neugier auf andere. Wir leben hierzulande von Verschiedenheit, von den unterschiedlichsten Lebenswegen."

Nachdem sie nun so ausführlich die hässliche Seite des "Dunkeldeutschlands" beschrieben hat, wird es Zeit, ein im Kontrast umso leuchtenderes positives Deutschland auszumalen - eines, das "Brücken schlägt", "weltoffen" und "neugierig" ist - und an dessen Spitze (das wissen ja alle) die Kanzlerin steht. Und eine kleine Ermahnung wird auch gleich eingeflochten - seinen "Wohlstand verdankt [es] ... seiner Weltoffenheit und Neugier".

Ob das historisch-wirtschaftlich so nachzuweisen ist, wäre noch zu überprüfen - am Anfang des Nachkriegswohlstands der BRD stand jedenfalls der überaus generöse Schuldenerlass seitens der Siegermächte auf der Londoner Konferenz von 1952/53.



Redeauszug: "Wir alle gemeinsam prägen das Gesicht Deutschlands, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts - getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache."

Zum Abschluss noch ein wenig Sprachbombast, wobei dem aufmerksamen Zuhörer einfallen könnte, das dieselbe Rednerin, die hier die gemeinsame Identität von Zugewanderten und "Bestandsbürgern" feiert, vor wenigen Jahren noch "Multikulti ist tot" erklärt hatte.



5. Zusammenfassend ergibt sich, dass Frau Merkel mit dieser Rede, die prima facie so wohlgelungen erscheint, recht erfolgreich von dem ablenkt, was auch ansonsten wohlmeinende Medien treffend "Staatsversagen" genannt haben. Nun ist die Kanzlerin sicherlich nicht für alle Übel im Staate verantwortlich - aber gerade die Abwehr von Verfassungsfeinden ist ja nicht ohne Grund im Kanzleramt gebündelt. Man fragt sich unwillkürlich, ob die Kanzlerin bei allen Konferenzen zum Thema Rechtsradikalismus in Urlaub war, oder aber ihr Hörgerät ausgeschaltet hatte oder wie sie es sonst "hinbekommen" hat, von all diesen Versäumnissen scheinbar nichts erfahren zu haben.

Seit der Rede sind weitere 5 Jahre vergangen, und das wenige, das die diversen Untersuchungsausschüsse zutage gefördert haben, verschlägt einem regelrecht die Sprache. Da wurden Ermittlungen behindert, von seiten des Verfassungsschutzes regelmässig mit der Zauberformel "Quellenschutz" zwielichtige Gestalten gedeckt, bewusst irreführende Fährten gelegt (die berühmte DNA-Spur auf Wattestäbchen), von Polizeiführern wichtige Spuren zerstört (etwa beim Tatort-Wohnmobil in Eisenach-Stregda), Steuergelder in rechtsradikale Kreise "investiert".

Wurden wenigstens die beamteten Ermittlungs-Verhinderer, die Akten-Schredderer und die fahrlässigen V-Mann-Führer entlassen? Die meisten haben noch nicht einmal eine Rüge erhalten, sondern sind weiterhin in Amt und Würden.

Auch jener fleissige V-Mann-Schützer (Affäre Temme) namens Volker Bouffier darf weiter das Amt des hessischen Ministerpräsidenten bekleiden - wobei die Parteifreundschaft mit Frau Merkel sicher kein Hindernis ist. Und auch der Innenminister, der ja qua Amt die Verantwortung für die Strafverfolgung und die hier offenbar gewordenen "Pannen" hat, wurde nicht etwa gerügt oder gar entlassen - sondern erfreut sich weiterhin seines Amtes.

Währenddessen dümpelt in München der sogenannte NSU-Prozess gegen die letzte Überlebende des "NSU-Trios", Beate Tschäpe, dahin - nicht zuletzt dadurch behindert, dass die von der Bundesanwaltschaft verfolgte Tathypothese (Alleintäterschaft des Trios) eigentlich unhaltbar ist.

Ein Nebenklägeranwalt hat die NSU-Mordserie mit dem treffenden Ausdruck "betreutes Morden" beschrieben.

Wer waren die "Betreuer", wer deckt sie ?



6. Was fangen wir Wahlbürger im Bundestagswahljahr nun mit einer Kanzlerin an, die sich - nicht nur in ihrer Trauerrede - sehr kunstvoll um ihre Verantwortung in der NSU-Affäre gedrückt hat?

Wir können es wie unsere Eltern und Grosseltern in den 1930er Jahren halten und entsetzt ausrufen: "Wenn das die Kanzlerin wüsste oder gewusst hätte..."



Wir können aber auch Frau Merkel nochmal beim Wort nehmen:

"Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."

Wäre ich ein Hinterbliebener aus dem Kreise der Familien Simsek, Özüdogru, Tasköprü, Kilic, Turgut, Yasar, Boulgarides, Kubasik oder Yozgat, so würde ich mich mittlerweile schlicht "verarscht" vorkommen.

Denn wer, wenn nicht die Bundeskanzlerin, hätte denn Sonderermittlungsgruppen einsetzen, die Offenlegung aller Akten anordnen und gegebenenfalls empfindliche Konsequenzen für die Verantwortlichen in Gang setzen können?

Sie hat aber nichts dergleichen getan. Nun können wir Wahlbürger uns entscheiden, ob sie dies aus Unvermögen oder aus Unwillen heraus getan hat. TERTIUM NON DATUR. *



(Mai 2017)



* In diesem Text, der ja um Gefühle und Eindrücke kreist, habe ich bewusst auf viele Fussnoten verzichtet. Für diejenigen, die sich in der Schule nicht mit Latein abmühen mussten, sollte ich aber eine Übersetzung für "prima facie" und "tertium non datur" nachliefern: der erste Ausdruck meint "auf den ersten Blick", der zweite "ein Drittes gibt es nicht".

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Meine Beschreibung der instinktiven Entschuldigungsstrategie der Hitler-Anhänger in den 1930er Jahren habe ich zwei Büchern Sebastian Haffners ("Anmerkungen zu Hitler" und "Von Bismarck zu Hitler") entnommen.

Einen nach meinem Dafürhalten sehr anschaulichen Einblick in die Lebensverhältnisse im "Dritten Reich" liefert auch der Spielfilm "Die weisse Rose" von Michael Verhoeven aus dem Jahre 1982.

Zum Thema NSU-Komplex empfehle ich zum einen Wolfgang Schorlaus Roman "Die schützende Hand". Im recht umfangreichen Dokumentar-Anhang wird so manche offizielle Tathypothese zerpflückt.

Sehr beachtlich auch die Fernsehfilm-Trilogie "Mitten in Deutschland" mit den Teilen "Die Täter", "Die Opfer" und "Die Ermittler".

Ebenfalls empfehlenswert die verschiedenen Artikel von Johanna Henkel-Waidhofer in der Kontext-Wochenzeitung, die sich vor allem mit den NSU-Untersuchungsausschüssen befassen.

Zum allgegenwärtigen Merkel-Kult brauche ich keine besondere Literatur-Empfehlung auszusprechen: Irgendeine Ausgabe einer beliebigen "grossen" Zeitung der letzten 10 Jahre aufschlagen, und mit guten Chancen findet sich ein weiterer Baustein der Merkel-Verehrung. Auch "Tagesschau" und "Heute" bieten reichlich Material.

Interessantes Detail am Rande: Auf der Website der Bundesregierung, von der auch die Süddeutsche den Wortlaut der Rede 2012 übernommen hatte, findet sich diese Rede nicht mehr - dafür aber zum Beispiel so wichtiges wie eine Mitschrift der Bundespressekonferenz vom 27.05.2011 - an mangelndem Speicherplatz wird die Entfernung also wohl nicht gelegen haben...