Immigration, Asyl und PR


It's hard to be forced from the lands that we live in,

our houses and farms we're obliged for to sell …


Our artists, our farmers, our tradesmen are leaving

to seek for employment far over the sea …


(trad. Irish folk song)



Im November letzten Jahres wurde folgendes Bild in allen Medien verbreitet: Frau Merkel steht in "ich-habe-meine-Hausaufgaben-nicht-gemacht"-Schulmädchenpose unter dem Rednerpult des CSU-Parteitags, von dem aus ihr CSU-Chef Seehofer die asylpolitschen "Leviten" liest. Viel wurde in den Kommentaren darüber diskutiert, ob denn ein CSU-Parteichef so mit der Kanzlerin umgehen dürfe oder aber ob die angespannte Flüchtlingslage nicht doch Seehofers kritische Bemerkungen rechtfertige. Die Tagesschau titelte z.B. "Seehofer trägt Streit mit Merkel offen aus" - aber war das wirklich ein offenes Streiten ? Mir erschien dies vielmehr als eine nahezu klassische Inszenierung - denn natürlich kann niemand der Bundeskanzlerin vorschreiben, da in Armer-Sünder-Pose vor dem Pult zu verharren, und natürlich hätte sie als Vorsitzende der Schwesterpartei CDU darauf bestehen können, wie üblich einen Sitzplatz auf dem Podium zu erhalten.


Als Inszenierung machte die Sache aber durchaus Sinn: War die Kanzlerin in den vorhergehenden Wochen fast zur "heiligen Angela der Flüchtlinge" hochstilisiert worden, immer mit dem Mantra "das Asylrecht kennt keine Obergrenze", so konnte sich Seehofer als der Anwalt der kleinen Ortsvorstände, Bürgermeister und Landräte (oder des "einfachen Mannes") präsentieren, der die konkreten Nöte dieser Amtsträger und Bürger mit der "Flüchtlingsflut" ernst nahm. Ein klassischer Fall von "getrennt marschieren und (mehr oder minder) vereint schlagen". Denn ungeachtet der "keine-Obergrenzen"-Rhetorik war die Bundesregierung ja schon längst in Verhandlungen mit Ländern der "Balkanroute" sowie der Türkei - immer mit dem Ziel der Begrenzung der Flüchtlingszahlen. Und der berüchtigte Türkei-Deal vom März dieses Jahres ist ja nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern war vermutlich schon im November in der Ausarbeitung.


Nun kann man angesichts der Erfolge der "AfD" bei den letzten Landtagswahlen darüber streiten, ob denn diese Inszenierung wirklich so erfolgreich war - aber hinsichtlich des Erfolges beim eher "linken" oder "links-liberalen" Bürgertum kann man eigentlich nicht zweifeln. Denn in dieser Debatte bekommen die "Linken" oder "links-Liberalen" offensichtlich "keinen Fuss auf den Boden". Was immer in diesem Bereich diskutiert wird, wird nahezu vollkommen von der Regierung vorgegeben. Das geht sogar so weit, dass sich ein Politiker der Partei "Die Linke" in einem Fernsehinterview quasi hinter dem Rücken der Kanzlerin verstecken möchte: Auf einen besonders absurden Vorschlag aus den Reihen der CSU zur Flüchtlingsfrage liess sich dieser Politiker mit dem Satz vernehmen "das wird die Kanzlerin nicht mit sich machen lassen...". Abgesehen davon, dass dieser Herr die beachtliche 180-Grad-Flexibilität dieser Kanzlerin (man denke an Mehrwertsteuer, Kopfpauschale, Atomausstieg etc.) unterschätzt - die effektive Politik dieser Regierung war da ja schon längst auf "Reduzierung ohne Rücksicht auf Verluste" ausgerichtet.


Wieso tun sich "linke" oder "links-liberale" Menschen eigentlich mit der Flüchtlingsproblematik so schwer ? Das hängt nun genau mit den egalitären und humanitären Idealen zusammen, die diese Bewegung seit über hundert Jahren antreiben. Internationale Solidarität, Ablehnung von rassistischen Vorurteilen, "alle Menschen werden Brüder" - das sind die Stichworte, die es jedem "Linken" schwermachen, etwa einer Begrenzung des Zuzugs ausländischer Mitbürger das Wort zu reden. Anders gesagt: Das "linke Herz" möchte gerne Menschen jeder Hautfarbe und jeden Bekenntnisses aufnehmen, am liebsten befreunden; es möchte niemanden vor Grenzzäunen durchnässt im Regen stehen sehen, es möchte jedem ein sicheres Auskommen bieten und dabei nicht zwischen In- und Ausländern unterscheiden müssen.


Nehmen wir als Beispiel zwei Parolen, die (zumindest bei den letzten Asyldiskussionen) gerne auf Hauswände gemalt wurden:

"Kein Mensch ist illegal !" Der Satz ist insofern natürlich richtig, als kein Mensch per se "legal" oder "illegal" ist. Allerdings wird es auf voraussehbare Zeit immer Menschen geben, die in dieser oder jener Hinsicht gegen das Gesetz verstossen - sei es, indem sie einen Supermarkt aufbrechen oder auf einen "gegnerischen" Fussballfan einprügeln. Und wer eine Grenze ohne "gültige Grenzübertrittspapiere" (Visum, anerkannter Pass) überschreitet, begeht eben auch einen ungesetzlichen oder "illegalen" Akt. Eine andere Frage ist, wie dieser Akt in der jeweiligen Situation zu bewerten ist. Der Supermarkteinbrecher wird ein viel milderes Urteil bekommen, wenn es ihm nur darum ging, sich nach Tagen des Hungerns endlich wieder satt zu essen und mit Kleidung einzudecken. Ebenso ist der illegal die Grenze übertretende Mensch ganz anders zu behandeln, wenn jenseits der Grenze ein Krieg mit täglicher Lebensgefahr droht, als wenn er aus einem offenbar reichen und sicheren Land (beispielsweise der Schweiz) kommt.

Ein andere Parole war: "Liebe Ausländer, lasst mich nicht mit den vielen Deutschen allein !". Hierin drücken sich zwei Gefühle aus, die ebenfalls vielen "Linken" gemein sind: Zum einen eine gewisse Angst vor einer rektionären Grundhaltung, die den "vielen Deutschen" anhafte - und angesichts der Wahlresultate der AfD ist es ja nicht zu übersehen, dass es tatsächlich eine für reaktionäre und nationalistische Ideen "empfangsbereite" Menge an Deutschen gibt. Andererseits eine (m.E.) naive Hoffnung, dass die ins Land strömenden Ausländer quasi automatisch zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft führen würden. Was sowohl auf der Seite der "Rezeption" (wie werden die Neubürger aufgenommen ?) als auch auf Seite der Immigranten (welche Ideale oder Weltanschauungen verfolgen sie ?) durchaus nicht der Fall sein muss.


Offensichtlich brechen sich aber die "linken" oder "links-liberalen" Ideale an einer Realität, die der träumende "Welt-Sozialist" gerne schon hinter sich gelassen hätte, nämlich dem Staat (der, wie Sabastian Haffner so richtig schreibt, "kein Nationalstaat sein muss"). Serge Halimi hat vor einigen Monaten in einem langen Artikel in "Le monde diplomatique" ausgeführt, dass Pässe eigentlich eine recht neue Erscheinung in der Geschichte sind - erst seit dem späten 19. Jahrhundert allgemein üblich und erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mehr oder minder verpflichtend. Aber sein Umkehrschluss, dass es der Pässe eigentlich gar nicht bedürfe, ist wohl etwas romantisch. Denn die modernen Staaten mit ihren umfassenden Aufgaben (Verwaltung, Rechtsprechung, Sozialwesen, Verkehrswesen, Verteidigung etc.) kommen natürlich ohne eine halbwegs praktikable Erfassung der Menschen, für die sie eingerichtet werden, garnicht aus. Und damit wird es zu einem notwendigen Recht der Staaten zu bestimmen, wer in das Land hinein will. Gewiss wäre es schöner, wenn wir ohne Grenzen und ohne Kontrollen auskommen könnten - aber solange uns noch nichts besseres als der Staat eingefallen ist, um unsere Gesellschaften zu organisieren ("der Staat ist ein Ordnungssystem" - wiederum Haffner) - dann müssen wir uns auch mit den weniger angenehmen Nebeneffekten auseinandersetzen - so wie der Organisator eines grossen Open-Air-Konzerts sich leider auch Gedanken um ausreichende Toiletten-Kapazitäten machen muss.


In Europa haben wir allerdings eine unerwartete "Komplikation" in Form der EU, die zwar eigentlich kein Bundesstaat sein soll, sich aber in ihrer Verwaltung gerne schon wie ein solcher benehmen will. Die EU-Kommission nutzt die aktuelle Flüchtlingssituation als Anlass, weitere Aspekte eines Staatswesens zu akquirieren - was teilweise nicht so gut (EU-Steuern, EU-Zentralbehörde für Flüchtlinge), teilweise recht gut (EU-FRONTEX-Grenztruppen) funktioniert. Darin und dazwischen agieren die Regierungen der Nationalstaaten, die die EU teilweise als Ausrede für eigene Versäumnisse, andererseits auch als Hebel für Zwangsmassnahmen gegen andere EU-Länder (die Dublin-Abkommen, die umstrittenen Aufnahmequoten etc.) nutzen wollen.


Mit ein paar Zahlen aus Wikipedia und Atlanten habe ich einmal folgende Tabelle zusammengestellt, an der sich einiges Interessantes demonstrieren lässt (für diese Betrachtung ist es dabei unerheblich, wenn die Zahlen nicht total exakt wären):



sort.

Jahr

Land / Region

Fläche in Quadrat-km

Bestands-Bevölkerung in Mio.

Bevölk.Dichte (Pers./qkm)

Einwanderer in Millionen

Asylsuchende in Mio.

Migranten ges.in Mio.(Einw.+Asyls.)

Migranten in % der Bestands-Bev.

Bevölkerungsdichte nach Zuzug

1

1907

USA *1

7.044.644

90

12,8

1,3


1,3

1,4%

13,0

2

2015

USA *2

9.826.675

322

32,8

0,7


0,7

0,2%

32,8

3

2015

BRD

357.375

81,8

228,8



0,8

1,0%

231,0

4

2010

Syrien *3

185.180

21,0

113,2


-4,0

-4,0

-19,1%

91,6

5

2013

Russland

17.075.400

143,6

8,4






6

2015

Russland *4

17.102.344

146,5

8,6






7

2013

Saudi-Arabien

2.148.690

30,0

14,0






8

2011

Litauen *5

65.300

2,9

44,2

-0,7


-0,7

-23,2%

33,9

9

2015

Niederlande

41.548

16,9

406,8






10

2015

Gazastreifen

360

1,9

5.166,7






11

2010

Hongkong

1.104

7,1

6.429,0






12

2014

Monaco

2

0,038

16.659,3






13

20xx

"BRD Fall Orange"

357.375

81,8

228,8


8,0

8,0

9,8%

251,2

14

20yy

"BRD Fall weiss-blau-rot"

357.375

81,8

228,8


73,0

73,0

89,3%

433,1

15

20zz

"USA Fall rot-weiss-schwarz"

9.826.675

322

32,8


4,0

4,0

1,2%

33,2

Bemerkungen:

*1 Das Jahr 1907 war bezogen auf die prozentuale Zunahme das Spitzen-Einwanderungsjahr in der US-Geschichte.

*2 Die genannten 0,7 Mio. Einwanderer werden als jährlicher Durchschnittswert für die letzten 10 Jahre genannt, darin sind keine illegalen Einwanderer enthalten.

*3 Die "minus-4-Millionen" sind die geschätzte Gesamtzahl von Syrern, die seit Beginn des Bürgerkriegs ihr Land verlassen haben.

*4 Die 2015er-Zahl für Russland beinhaltet die Krim.

*5 Die hier aufgeführten rund 700'000 Auswanderer sind - wie bei Syrien - kein Jahreswert, sondern eine Schätzung für den Zeitraum von 1991 bis 2013.




In der ersten Zeile sind die USA von 1907 aufgeführt: Der "melting pot" sozusagen in Hochform - 1,3 Millionen Neubürger treffen auf 90 Millionen "Bestandsbürger". Auf die Bevölkerungsdichte hatte das kaum einen Einfluss - sie wuchs von 12,8 Einwohnern pro Quadratkilometer auf 13,0. Wichtiger ist sicher, dass es sich um eine Zeit recht beständig hohen Wirtschaftswachstums handelte. Und nicht nur die Wirtschaft wuchs - auch das Staatsgebiet war noch im Wachstum begriffen. Drei grosse Flächenstaaten sollten erst nach 1907 Teil der USA werden (erkennbar an der Flächenangabe für 2015). Insgesamt eine für die Aufnahme von Immigranten sicher sehr günstige Konstellation.

In Zeile 3 ist die BRD von Ende 2015 aufgeführt, die rund 800'000 zugezogenen Menschen bedeuten eine Quote von rund 1 % und damit garnicht soviel weniger als die 1,4% im "Spitzenjahr" der USA 1907. Wenn diese Zahl für die BRD problematisch ist, dann ganz sicher nicht wegen der nunmehr auf 231 Einw./qkm angestiegenen Bevölkerungsdichte. Unsere niederländischen Nachbarn (Zeile 9) haben eine fast doppelt so hohe Bevölkerungsdichte, und es gibt Länder und Regionen mit weit höheren Werten - exemplarisch sind hier Gaza, Hongkong und Monaco aufgeführt (Zeilen 10-12). Insofern wird richtigerweise kaum noch jemand die "das-Boot-ist-voll"-Metapher benutzen. In der Tabelle sind auch 2 Länder mit Bevölkerungsverlusten aufgeführt - nämlich Syrien und Litauen. Während der Exodus von geschätzten 4 Millionen Syrern seit Beginn des Bürgerkriegs (fast ein Fünftel der Bevölkerung !) natürlich momentan die volle mediale Aufmerksamkeit in Europa geniesst, hat den prozentual noch höheren Exodus aus Litauen kaum jemand bemerkt. Das liegt natürlich sowohl an der absolut geringeren Zahl (0,7 Mio.) und dem längeren Zeitraum, aber sicher auch daran, dass weder die litauischen Regierungen noch die EU das schöne Bild vom Erfolgsmodell EU-Osterweiterung durch so etwas problematisches wie "Entvölkerung" trüben lassen wollten.


Schliesslich habe ich noch drei hypothetische Fälle in die Tabelle aufgenommen. Für "BRD Fall Orange" denken wir uns eine grosse Nordseesturmflut, die grosse Teile der Niederlande unbewohnbar macht. Für diesen Fall habe ich einmal angenommen, dass die Hälfte der Niederländer zu Emigranten wird, und es wäre wohl nicht unwahrscheinlich, dass die meisten dann Zuflucht in Deutschland suchen würden. In der Tabelle ergibt dass eine nicht so dramatische Erhöhung der Bevölkerungsdichte von rund 230 auf rund 250 Einw./qkm, aber eine bislang in Europa ungesehene Zuwanderungsquote von fast 10%.

In der nächsten Denkfigur, genannt "BRD Fall weiss-blau-rot", sind es diesmal die Russen, die sich westwärts aufmachen. Man könnte sich z.B. vorstellen, dass die Russen als Reaktion auf alle SPIEGEL-, ZEIT- und WELT-Artikel, in denen Präsident Putin als grausamer Herrscher, Friedensbedroher und Annektierer dargestellt wurde, fluchtartig ihr Land verlassen und nach Westen strömen. Da nicht wenige Russen nach etwas Ahnenforschung einen irgendwie deutschstämmigen Vorfahren anführen könnten, wäre Deutschland als Ziel schon recht plausibel. Wieder mit der Hälfte der (russischen) Bevölkerung gerechnet, wären es über 70 Millionen Neubürger, die damit nicht nur die Bevölkerungsdichte auf holländisches Niveau bringen würden, sondern die Zuzugsquote auf fast 90%. Ob so ein Migrationsexperiment wohl gutgehen würde ?


Zum Schluss habe ich mir mit "USA Fall rot-weiss-schwarz" vorgestellt, wie sich die Zahlen für die USA darstellen würden, wenn sie alle 4 Millionen syrischen Flüchtlinge aufnehmen müssten. Da die US-Politik m.E. für die traurige Entwicklung in Syrien in hohem Grade mitverantwortlich ist, wäre das ja gar keine so absurde Forderung. Man sieht, dass es zumindest rechnerisch recht undramatisch aussieht - mit einer Zuzugsquote von 1,2% wäre man noch deutlich unter dem historischen Wert von 1907. Wenn ich mich recht erinnere, haben die USA die Übernahme von knapp 20'000 syrischen Flüchtlingen angekündigt … da wäre wohl noch etwas "Luft nach oben" ...


Was kann man nun allgemein aus dieser Tabelle ablesen ? Zunächst einmal, dass es vermutlich doch Grenzen für Einwanderung gibt. Kaum jemand wird annehmen, dass im Szenario meines "Falles blau-weiss-rot" die bundesrepublikanische Bevölkerung die 70 Millionen Neubürger problemlos absorbieren würde. Mindestens wären erhebliche Auseinandersetzungen um Wohnraum und Arbeitsplätze zu erwarten, sicher auch heftige Proteste wegen wirklicher oder vermuteter Diskriminierung. Das gesamte Staatswesen müsste eigentlich umgekrempelt werden - man müsste wohl zu einem ganz neuen "deutsch-russisch-könföderierten" Staatsgebilde kommen. Im negativen Fall wäre wohl auch ein Bürgerkrieg nicht auszuschliessen.


Wo aber liegen diese Grenzen ? Sollte man, angesichts des "melting-pot"-Spitzenwertes von 1907, einfach 1,4% als maximale Zuzugsquote festlegen ? Ganz offensichtlich müsste man aber auch die wirtschaftlichen und geografisch-räumlichen Umstände in Betracht ziehen. Die USA der Depressionsära Ende der 1920er Jahre hätte sicher mehr Probleme mit dieser Quote gehabt als im Boomjahr 1907. Ausserdem war die Immigration auch in den USA nie so problemlos, wie sie heute erscheinen mag. Es gab - auch in der "goldenen" Zeit Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts - immer wieder auch ethnisch beeinflusste Diskriminierungen, Streiks und Tumulte. Und das Aufkommen der italienisch geprägten Mafia in den 1920er Jahren kann man auch als misslungene Integration des letzten grossen Einwanderungsschubs aus Europa deuten.


Sollte man einfach die Bevölkerung befragen, wieviel Zuwanderung sie "vertragen" kann ? Oder soll man sich, noch einfacher, an den Wahlergebnissen xenophober Parteien orientieren und, sobald diese eine bestimmte Pegelmarke überschreiten, die Quote des nächsten Quartals einfach halbieren ? Die letztgenannte Methode wäre sicher fatal, da sie die Politik letztlich genau von diesen xenophob-atavistischen Parteien und deren Wählern bestimmen lassen würde.


Alle "klassischen" Einwanderungsländer (USA, Kanada, Australien) haben für die jährlich zulässige Immigration Obergrenzen bzw. Quoten festgelegt. Und diese sind letztlich - wie auch immer das im Einzelnen begründet sein mag - willkürlich festgelegt. Daneben stehen sehr verschiedene Regelungen zur Aufnahme von Flüchtlingen. Das bringt uns zur Frage, wie man eigentlich zwischen Immigranten und Flüchtlingen unterscheidet. Denken wir uns einmal einen syrischen Kleingewerbler, vielleicht einen Gemüsehändler, der seine Heimatstadt Damaskus verlässt und nach Europa aufbricht. Wir wissen, dass es Teile von Damaskus gab, in denen der Bürgerkrieg sehr heftig tobte. Weniger bekannt ist, dass es auch Gebiete gab und gibt, in denen es durchaus friedensmässig zugeht und in denen z.B. anspruchsvolle Restaurants florieren. Unser Beispielsyrer kann in einer Gegend gelebt haben, in der täglich Gefahr bestand, von MG-Kugeln getroffen zu werden - dann wäre er klarerweise ein Kriegsflüchtling. Er kann aber auch nur unter stetig sinkenden Einnahmen aus seinem Gemüsehandel gelitten haben - dies zwar indirekt vielleicht auch durch den Krieg verursacht, aber eben durchaus nicht lebensgefährlich. Nach dem noch Anfang letzten Jahres üblichen Sprachgebrauch wäre er dann "nur" ein Wirtschaftsflüchtling. Zu guter Letzt kann er sein Land aber auch nur deswegen verlassen haben, weil alle seine Freunde sich im Ausland befinden oder weil er das Klima nicht mehr mag. Dann wäre er einfach ein Immigrant.


Die hier wichtigste Unterscheidung - die zwischen Immigrant und Flüchtling - müssen die "klassischen" Einwanderungsländer gar nicht selber treffen, denn sie wird einfach dem Migranten selbst überantwortet. ER muss nämlich sagen, ob er als Immigrant oder als Flüchtling aufgenommen werden will - und er kann dies aufgrund einer typischerweise klaren Unterscheidung seiner zukünftigen Möglichkeiten auch tun. Denn als Immigrant ist das Ziel, nach einer unterschiedlich langen Übergangszeit ein vollwertiger Bürger des neuen Staates zu werden - mit allen (auch wirtschaftlichen) Möglichkeiten, aber auch allen Pflichten. Während er als Flüchtling zwar ein Recht auf eine menschenwürdige Versorgung hat, aber nicht auf dauernden Aufenthalt und volle Gleichstellung - da das Ziel natürlich die Rückkehr in das Heimatland bleibt. Ein klug handelnder Staat wird dem Immigranten die Integration durch Sprachkurse, Arbeitsangebote und anfängliche Wohnraumbeschaffung erleichtern - aber im Falle des Flüchtlings sein Hauptaugenmerk auf die Ermöglichung der Rückkehr richten.


Aber ein Einwanderungsgesetz gibt es für die Bundesrepublik - trotz jahrelanger Diskussionen darüber - immer noch nicht. Stattdessen geschah im letzten Sommer etwas merkwürdiges: Nachdem die Medien bis dahin, je nach Anlass und Ausrichtung, ganz verschiedene Bezeichnungen für die Zuwanderer benutzt hatten (Asylanten, Flüchtlinge, Immigranten, Wirtschaftsflüchtlinge, Migranten etc.), hiessen sie binnen weniger Wochen in allen Mainstream-Medien nur noch Flüchtlinge. Und im September 2015 folgte der scheinbar einsame Entschluss der Kanzlerin, die Grenzen zu Österreich (und mittelbar aus Ungarn) für "alle" Flüchtlinge zu öffnen. Und anstelle einer Diskussion darüber, mit welchem Recht hier die Exekutive so weitreichende Entscheidungen trifft, ob und wie Kommunen und Landkreise darauf vorzubereiten seien, war die mediale Hauptsorge, wie wohl die Hunderttausenden von Neuankömmlingen, besonders aus Syrien, schnellstens zu integrieren seien (ein Freiburger Sonntagsblatt verkündete frohgemut und apodiktisch "Integration dauert 6 Monate"). Und während Frau Merkel mit immer neuen Lobeshymnen ob ihrer ach so humanen Politik überhäuft wurde, war ihre Bundesregierung schon fleissig dabei, immer mehr Fluchtrouten "dicht" zu machen und immer weitere Migrantengruppen mit dem Instrument der "sicheren Herkunftsländer" auszuschliessen. Vorläufiger Höhepunkt ist der Türkei-Deal vom März dieses Jahres, nachdem "illegal" über die Ägäis-Route gekommene Einwanderer in die Türkei zurück abgeschoben werden, während in gleicher Zahl "legale" syrische Einwanderer von der Türkei an die EU überstellt werden. Mit etwas Verstand betrachtet ein merkwürdiges Verfahren: Während man die bereits auf EU-Boden befindlichen Einwanderer in Griechenland, bei denen man ja die Möglichkeit hätte, selber nach allen EU-Regeln über Verbleib oder Abschiebung zu entscheiden, pauschal und ungeprüft in die Türkei zurückschafft, darf das nicht-EU-Mitglied Türkei, entscheiden, wer in die EU hineindarf und wer nicht. Und das, obwohl die Türkei mittlerweile auf dem Weg zu einem bedenklich präsidial-autokratischen System ist.


Einen kleinen Einblick in die dahinterstehenden Interessen ergab sich für einen medialen Wimpernschlag lang, als sich Mitte Mai einige EU-Politiker darüber aufregten, dass die Türkei nicht "wie versprochen" überwiegend Ingenieure und Akademiker, sondern eher "gering qualifiziertes" Immigranten-Personal schicke. Das Thema verschwand ganz schnell aus den Schlagzeilen, wäre aber doch einer näheren Betrachtung wert gewesen. Es passt nämlich so gar nicht zur offiziellen Lesart von der ungemein humanitär agierenden Bundesregierung. Fast, wie wenn man auf der Titanic nicht "Frauen und Kinder zuerst in die Rettungsboote", sonder "Ingenieure und Akademiker zuerst" gerufen hätte …


Dies war ein kleiner medialer Fehler, der auch schnell "ausgebügelt" wurde. Insgesamt muss man der PR der Bundesregierung grosse Klasse zubilligen: Mit der ganzen medialen Feuerkraft von Bild und Welt, ARD und ZDF wurde die "nobelpreiswürdige" Grosstat der Kanzlerin unters Volk gebracht, die "ganz allein" die Grenzen öffnete und Tausenden von Flüchtlingen endlich den sicheren Zufluchtsort bescherte(den sie aber mit jeder Asylrechtsänderung auch ganz schnell wieder verlieren können). Und die "linken" oder links-liberalen konnten das ja eigentlich nicht kritisieren, ging es doch (scheinbar) um genau jene Ziele von Humanität, Solidarität und Toleranz, die man schon immer verfocht.


Es gab aber nicht wenige Bundesbürger, typischerweise eher "rechts" oder konservativ eingestellt, die sich fragten, wieso denn so ein demografisches Grossprojekt plötzlich ohne jede demokratische Willensbildung, ohne Diskussion über Quoten oder mögliche Gefahren einfach so dekretiert werden konnte: "Wieso wurden wir nie gefragt ?". Und je prekärer die eigene Situation bezüglich Arbeitsplatz und Wohnraum war bzw. ist, umso eher sind diese Menschen in eine instinktive Abwehrhaltung verfallen, die dann am ehesten von Pegida oder AfD "bedient" wurde. Die subjektiv empfundene Gefahr des Abrutschens in prekäre Lebensverhältnisse erklärt das so oft als "rätselhaft" dargestellte Phänomen, dass Pegida und AfD z.B. in Sachsen und Thüringen so viel Zuspruch erfahren, obwohl dort ja "kaum Migranten vorhanden" seien. Es geht eben nicht um die tatsächliche Anzahl von Migranten, sondern um das Bedrohungs- und Abstiegs-Gefühl.


So ist für die Bundesregierung praktisch eine Idealkonstellation gegeben: Während die "linken" oder links-liberalen sich am neuerstandenen "braunen Mob" abreagieren, kann man fast unbehelligt einer Immigrationspolitik nach Gutsherrenart frönen: Durch das Mantra von der "Asyl-kennt-keine-Obergrenze" moralisch immun gemacht, konnte man die effektiven Einwanderungszahlen so regeln, wie man es ohnehin am liebsten macht: durch bilaterale Abkommen oder manchmal auch nur formlose Telefonate mit den Regierungs-Chefs sowie mit relativ schnell durchzusetzenden "Sichere-Herkunftsländer"-Regelungen. Insofern ist die Abwesenheit eines Einwanderungsgesetzes kein historischer Zufall, sondern sehr bewusst gewollt. Nur das je nach Sachlage passend verschärfte Asylrecht bietet die Flexibilität, die sich die Regierung eben wünscht. Gleichzeitig schiebt man die konkreten Lasten der Aktion zum Grossteil den Ländern und Kommunen zu und umschmeichelt eine "Zivilgesellschaft", die bitteschön im Rahmen einer "Willkommenskultur" sich um Essens- und Kleiderverteilung kümmern soll, am besten in Form eines unbezahlten "Ehrenamtes".


Und wieso wurden gerade die Syrer plötzlich asylpolitisch privilegiert, nachdem man regierungsseitig jahrelang den Bürgerkrieg in diesem Land nach besten Kräften ignoriert hatte ? Eine mögliche Erklärung habe ich bereits unter "Ein Wettlauf in der Wüste" geliefert.


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Wie sollte ein auch für die Bestandsbevölkerung akzeptables Einwanderungs- und Asylrecht aussehen ? Patentrezepte gibt es wohl nicht, aber man sollte sich vielleicht an Systemen orientieren, die historisch gesehen funktioniert haben. Etwa das Herkunftsländer-Quotensystem, wie es die USA jahrzehntelang anwandten (siehe "Materialien: Broschüre >Wissenswertes über USA< 1955"). Die Ausrichtung auf die ethnisch-nationale Abstammung der Bestandsbevölkerung wird zwar heute gern als "diskriminierend" gebrandmarkt, hatte aber auf jeden Fall den Vorteil, dass sich keine Gruppierung von "fremden Ethnien" überrollt fühlen konnte. Trotzdem liess das System graduelle Verschiebungen durchaus zu - einfach dadurch, dass viele Gruppen (die deutschstämmigen, die englischstämmigen etc.) im Lauf der Zeit "ihre" Quote garnicht mehr ausschöpften.


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Es ist sicher gut, wenn der Begriff der Heimat nicht mehr so überhöht ist wie in den 1950er oder gar 1930er Jahren. Trotzdem - und deswegen habe ich die Zeilen des irischen Liedes an den Anfang gestellt - ist es zweifelsohne grausam, wenn man seine Heimat verlassen muss. Gerade im Fall der syrischen Kriegsflüchtlinge müsste der Schwerpunkt aller Anstrengungen doch darauf liegen, ihnen eine baldige Rückkehr in ein halbwegs befriedetes Land zu ermöglichen. Und eine ehrliche Einwanderungs- und Asylpolitik müsste jene Alternative (Immigration oder Asyl), die die klassischen Enwanderungsländer seit jeher bieten, klar aufzeigen. Sie müsste auch mindestens für die Immigration klare Quoten nennen, deren Aussenwirkung die Vermeidung unnötiger Fluchtrisiken und deren Innenwirkung die Erhöhung der Akzeptanz wäre.



(Juni 2016)