Der Gefangene von Portmeirion



Im Jahre 1966 begannen im kleinen walisischen Ort Portmeirion die Dreharbeiten zu einer schliesslich 17 Episoden umfassenden TV-Serie. Die Ausstrahlung im britischen Fernsehen unter dem Titel "The Prisoner" begann 1967 und erstreckte sich bis Anfang 1968.

Im deutschen Fernsehen begann die Ausstrahlung einer synchronisierten Fassung 1969 jeweils samstags unter dem Titel "Nummer 6" und endete im Folgejahr, allerdings wurden nur 13 der ursprünglich 17 Episoden ausgestrahlt. Irgendwann in diesem Jahr betrachtete ich (alle/die meisten ?) dieser Episoden am heimischen Schwarz-Weiss-Fernseher, offensichtlich aufgrund eines unerklärlichen Versagens bei der Überwachung der angesagten Zubettgeh-Zeit für ein gerade zehnjähriges Kind - denn so gute Sachen wurden natürlich erst um 22:30h oder 23:00h gezeigt...


Die Serie machte einen grossen Eindruck auf mich, obwohl ich sicherlich mindestens die Hälfte nicht verstand. Die Spannung bis zur letzten Folge, die eigentlich alles aufklären sollte, wuchs geradezu unheimlich. Angeblich wurde gerade diese letzte Folge von vielen Zuschauern abgelehnt, da sie - anstatt eine klare "whodunit"-Lösung zu präsentieren - eher wie ein in ein Rätsel verpacktes Geheimnis daherkam. Natürlich begriff ich an dieser Folge noch viel weniger, aber enttäuscht war ich nicht - zu überraschend waren die Wendungen, zu wuchtig die darstellerischen Leistungen, zu deutlich der Abstand zur gewohnten Serienkost.


Vor etwa 6 Jahren stolperte ich über die DVD-Ausgabe der Gesamtserie und griff ohne viel Zögern zu. Allerdings - bevor ich die erste DVD in den Player legte, war ich mir durchaus bewusst, dass die Sache vielleicht mit einer herben Enttäuschung enden könnte. Fast jeder hat schon einmal solche Erfahrungen gemacht: Man kauft die CD eines in der Jugend verehrten Rocksängers und muss beim erneuten Hören feststellen, dass der Junge zwar sehr laut war, aber gesanglich eher beschränkt. Oder man sieht einen alten Film einer ehemals angehimmelten Leinwanddiva und denkt sich: Ja, da sieht sie noch genauso schön aus, wie man es in Erinnerung hatte - aber die schauspielerische Gabe war doch begrenzt …


Zu meiner Überraschung stellte sich The Prisoner als fast noch besser heraus, als ich es in Erinnerung hatte. Offenbar geht es einigen Mitmenschen so, denn beispielsweise finden immer noch die jährliche Treffen der "Prisoner Appreciation Society" in Portmeirion statt - unter reichlicher Beteiligung nicht nur englischer Fans. Und das schliesslich im Jahre 2009 eine Art "Remake" produziert wurde, zeigt das anhaltende Interesse an der Serie und ihren Themen.


Spätestens an dieser Stelle muss ich den "uneingeweihten" Lesern eine kurze Beschreibung der grundlegenden Story liefern. Eigentlich liefert die kurze Pre-Title-Sequenz, unheimlich rasant geschnittenen und mit dem musikalischen Leitmotiv unterlegt, schon die Basis für alles folgende: Man sieht einen entschlossenen etwa 40-jährigen Mann, der mit seinem Sportwagen an Big Ben vorbei in eine Tiefgarage fährt, um von dort in ein scheinbar unterirdisch gelegenes Büro zu stürmen. Dort beginnt er eine heftige Auseinandersetzung (deren Inhalt wir leider nicht erfahren) mit einem offensichtlichen Vorgesetzten, um ihm schliesslich seinen Kündigungsbrief auf den Tisch zu donnern. Immer noch erregt, fährt er zu seiner Wohnung und beginnt seine Koffer zu packen - den hastig dazugestopften Prospekten mit Palmenmotiven nach zu urteilen soll es wohl in die Karibik oder ein anderes sonniges Ziel gehen. Während er noch packt, strömt ein Betäubungsgas in seine Wohnung, und er wird ohnmächtig. Als er wieder erwacht, scheint er immer noch in seinem Wohnzimmer zu sein - aber ein Blick aus dem Fenster zeigt nicht mehr London, sondern eine merkwürdige Architekturcollage, die "irgendwo" in der Welt sein könnte (erst am Schluss der letzten Serie erfährt der Zuschauer: "filmed at Location in Portmeirion …").


Recht schnell erfährt unser Held, dass er in einer merkwürdigen Örtlichkeit namens "the village" gelandet ist, in der niemand beim Namen, sonder jeder immer nur mit einer Nummer angesprochen wird. Und diese Nummern bilden auch eine Art Hierarchie ab, denn während die "Hunderter"-Nummern wenig zu sagen haben, sieht es bei den "Zehner"-Nummern schon anders aus. Die offensichtliche "Regierungsgewalt" übt Nummer 2 aus, der allerdings in regelmässigem Telefonkontakt zu einer "Nummer 1" steht, die nicht nur Nummer 2 Befehle erteilen, sondern sie auch jederzeit absetzen kann. Die Identität von Nummer 1 bleibt bis zum Schluss unklar, ebenso wer denn den ganzen "Laden" überhaupt eingerichtet hat - die "anderen" (im Kontext der späten 60er Jahre offenbar die Sowjetrussen), eine dritte Macht oder am Ende gar die Briten selber. Denn - auch das ist unausgesprochen, aber trotzdem klar - unser Held war ein britischer Spion, und eben den Grund für seine Kündigung zu erfahren, wird das bestimmende Ziel aller Nummer-2-Gegenspieler sein. Wo aber steht der Titelheld ? Nicht nur wegen seiner hierarchisch hohen Nummer scheinen einige seiner Mitgefangenen (oder sind es doch nur Wärter im Dienst von Nummer 2?) Nummer 6 eher für einen von "denen" zu halten.


Das alles klingt nun zunächst nach einer vielleicht etwas überkandidelten Agentengeschichte, von denen davor und danach ja noch unzählige produziert wurden. Was macht also den besonderen Reiz aus, der noch nach über 40 Jahren die Serie (oder zumindest die meisten Episoden) so frisch erscheinen lässt wie wenig anderes im aktuellen TV-Programm ? Der erste Grund liegt sicher in einem stellenweise genialen "production design". Denn die Serie wirkt durchaus nicht verstaubt, sondern scheint noch immer in der Gegenwart oder einer nahen Zukunft zu spielen. Natürlich - bei den (wenigen) Strassenszenen aus London sieht man die typischen 60er-Jahre Autos (z.B. Rover 2000, Ford Cortina, Austin A35, viele "Minis", Scammel-Lastwagen etc.) , und der Kampfjet, den der Held in einer Episode besteigt, ist heutzutage bestenfalls noch in einem Museum zu besichtigen. Aber schon das Auto, mit dem der Held herumkurvt (ein Lotus Super 7), war vom Konstrukteur Colin Chapman geradezu als Quintessenz des Sportwagens konstruiert worden (und wird in etwas veränderter Form noch heute gebaut). Im Village aber hat man sehr überzeugend eine eigene Welt erschaffen. Zum einen die (vorgefundene) Architektur von Portmeirion, die eine wilde Mischung verschiedenster Stile und Kulturkreise bildet, mit vielerlei Schrullen - etwa dem Steinschiff, dass wie erschaffen zum Durchpflügen der Ozeanwellen scheint, sich aber keinen Millimeter von der Kaimauer fortbewegen wird. Dann die durchgehende Beschriftung (mit einer eigens entwickelten Schriftart !) aller Gebäude und Hinweistafeln. Auch die Interieurs lassen sich auf nichts festnageln - Möbel einer "klassischen Moderne" stehen neben hübschen mehr oder minder antiken Kommoden und Tischchen, und dazwischen stehen die auch heute futuristisch wirkenden "Bubble Chairs".




Das knappe Dutzend Autos im Village wird ausschliesslich von Mini Mokes gebildet (als Taxi, Feuerwehr oder Krankenwagen) - damals wohl futuristisch und skurril, heute skurril und exotisch wirkend. Und die Innen-Lautsprecher der öffentlichen Beschallungs-Anlage (auf eine unheimliche Weise nicht deaktivierbar) würden auch heute noch als Bestandteil einer gepflegten Musikanlage durchgehen.

(Nur da, wo sich die Designer vermutlich an der Spitze des technischen Fortschritts wähnten, kann man sich heute ein Lächeln nicht verkneifen: Die dargestellten Computer, schrankgross mit vielen bunten Lämpchen und hektisch wirbelnden Magnetbandspulen, nach dem Ablauf einer komplizierten Berechnung eine Lochkarte oder einen Lochstreifen in die Hände eines ernst dreinblickenden Wissenschaftlers ausspuckend, wirken heute recht albern.)


Für den Erfolg in Deutschland war auch eine im besten Sinne kongeniale Synchronisierung verantwortlich, die manchmal sogar das Original übertraf. So wird im Vorspann die Frage des Helden "Where am I ?" - also "Wo bin ich ?" - mit dem lapidaren "In the village" beantwortet. In der Synchronisation hat man dies nicht wörtlich mit "Im Dorf" übersetzt, sondern lässt Nummer 2 "Sie sind da !" antworten. Während man auf "in the village / im Dorf" noch die Frage anschliessen könnte "in welchem Dorf?", so schliesst die Antwort "Sie sind da!" - obwohl ja die lauterste Wahrheit darstellend - gleichzeitig jede Nachfrage aus. "Sie sind da" - oder "Sie sind dort, wo wir sie haben wollten." ….


Ein weiterer Grund ist Patrick McGoohan, der nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern ganz wesentlich das Entstehen und das Design der Serie bestimmte. Am Ende sollte er auch in einem Gutteil der Folgen Regie führen und die Drehbücher erstellen. Seiner Darstellung der Nummer 6 glaubt man den entschiedenen Behauptungswillen gegenüber der scheinbar allwissenden Nummer 2 sofort. Jeden seiner kleinen Erfolge gegen das Oppressions-Regime möchte man bejubeln, bei jeder Niederlage fühlt man mit.


Ein besonderer Kniff der Drehbücher ist die Konzeption der Nummer 2. Diese wird nämlich in fast jeder Folge von einem anderen Schaupieler (oder einer anderen Schauspielerin) verkörpert - üblicherweise mit der Begründung, dass die alte Nummer 2 bei der Behandlung von Nummer 6 versagt habe. Jede neue Nummer 2 bringt ihre eigenen Methoden, Umgangsformen und Manierismen mit sich, auf die sich Nummer 6 immer neu einstellen muss. Das Ziel, offenbar von der mysteriösen Nummer 1 vorgegeben, bleibt aber immer gleich: Das "Knacken" von Nummer 6, das Entreissen aller seiner Geheimnisse, immer kulminierend in der Frage "Why did you resign ?" - "Warum sind sie zurückgetreten ?".


Der wichtigste Grund sind aber das Setting und die Themen der Serie selbst. Man könnte behaupten, dass hier geradezu die Zustände Europas im beginnenden 21. Jahrhundert vorweggenommen wurden:

  • die allgegenwärtige Videobeobachtung (im village nicht nur auf öffentlichen Plätzen, sondern auch bis in die Schlafzimmer hinein)

  • die beständige Bespitzelung

  • die künstlich erzeugte, oberflächliche Ferien- und Feierstimmung

    (im Village zieht die Feierparade sinnträchtigerweise immer im Kreis um den Teich der "piazza")

  • die zu einer Abart von Faschingsrummel verkommenden Wahlen

  • die im technischen Sinne demokratisch gewählten Regierungen, welche jedoch eigentlich nur die Anweisungen einer im Hintergrund bleibenden "höheren" Macht (hier der "Nummer 1") ausführen


Und erscheint nicht jener Satz, den Nummer 6 bei seiner Begegnung mit der ersten Nummer 2 als seine persönliche Devise nennt, geradezu wie gedacht für unsere Zeit:


> I will not be pushed, filed, stamped, indexed, briefed, debriefed or numbered ! <


( > Ich werde mich nicht bedrängen lassen, nicht absortieren, abstempeln, kategorisieren, einweisen und abhören lassen,

ich werde mich nicht auf eine Nummer reduzieren lassen ! < *)


Überraschenderweise könnte unsere Kanzlerin Frau Merkel eine ganz gute "Nummer 2" abgeben. Statt die Befindlichkeiten der Märkte (an deren Anforderungen sich, ihrem Selbstbekenntnis nach, die Ergebnisse der Demokratie auszurichten haben) mühsam durch Befragen verschiedener selbsternannter Markt-Botschafter (des BDI, der Deutschen Bank, gelegentlich auch des Hotelverbandes etc.) zu eruieren, könnte Sie einfach Nummer 1 anrufen und dort ihre Direktiven abholen.


Jene Mischung aus Hofberichterstattung und Hagiografie, welche in Deutschland FAZ, WELT, ZEIT und andere Mainstream-Zeitungen so gerne der Kanzlerin widmen, würde sie dann von TALLY-HO (der Zeitung des village) geliefert bekommen. Allerdings im Umfange etwas gekürzt, da TALLY-HO auch im technischen Sinne einseitig ist (von der Rolle zum Abreissen - unheimlich praktisch...).


Nur eine Figur wie Nummer 6 wäre neu für die Kanzlerin - oder zumindest die Notwendigkeit, sich ernstlich mit einem beharrlichen und intelligenten Gegenpart befassen zu müssen. Denn im wirklichen parlamentarischen Leben kann es sich Frau Merkel durchaus erlauben, beispielsweise bei der Analyse des Afghanistan-Einsatzes durch Herrn Gysi demonstrativ gelangweilt mit dem Smartphone zu spielen - in der Gewissheit, dass weder Gysis Rede noch Ihre Missachtung derselben von den Mainstream-Medien der Bedeutung gemäss dargestellt werden.


(April 2016, Korrekturen Juni 2016+März 2019)







Anmerkung: Die Fotos und Grafiken in diesem Artikel habe ich, hoffentlich mit dem Wohlwollen der Ersteller, commons.wikimedia.org entnommen. Das Pennyfarthing-Motiv stammt von Nutzer "indolences", der Ball-Chair von "sailko" und der Mini Moke von "Peter Broster".


* Meine Übersetzung ist sicher nicht wortgenau, aber hoffentlich sinngemäss. Insbesondere das Wortpaar briefing-debriefing ist m.E. nicht wirklich passend übersetzbar.


Wer zum "Gefangenen von Portmeirion" mehr Infos sucht, wird u.a. hier fündig: www.nummer6-theprisoner.de






www.truthorconsequences.de