Lohnt sich das ? Teil 2: Daten




Zwischen New York und Chicago gibt es, schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, zahlreiche "Daten"-Leitungen. Am Anfang waren es Telegrafiekabel, die - meist an Holzmasten entlang der Eisenbahnstrecken aufgespannt - den "Datenaustausch" zwischen diesen beiden wichtigen Handelszentren der USA ermöglichten. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Kabel hinzu, meist für Telefonie oder Telex, ab den 1960er Jahren dann auch für Datenleitungen im heutigen Sinne - also um Computern Datenaustausch zu ermöglichen.

Auch wenn die Kabel dann typischerweise unter der Erde verlegt waren, so folgten sie doch immer noch den "natürlichen" oder tradierten Verkehrsadern - den Bahn- und Autobahntrassen oder den Flussläufen. Dadurch war die effektive Kabellänge meist beträchtlich länger als jene rund 1300 km "Luftlinie", die zwischen den beiden Städten liegt. Im Jahre 2010 allerdings ging ein US-Unternehmen daran, ein spezielles Glasfaserkabel auf dem bestmöglichen "schnurgeraden" Weg zu verlegen. Dazu wurden Strassen, Wohnviertel, aber auch Flüsse und Bergzüge unterquert. Die Sache soll rund 300 Millionen US-Dollar verschlungen haben. Am Ende konnte das Unternehmen seinen Kunden eine Novität anbieten: Computerräume mit exklusiver High-Speed-Datenanbindung für Börsenhändler, die gleichzeitig an den Börsen in New York und Chicago tätig waren. Und diese Leitung war ein Dutzend Millisekunden schneller als die Datenleitungen der Konkurrenz-Unternehmen. Für diese speziellen High-Speed-Trader ein wichtiges Argument, da damit mögliche Kursdifferenzen eher genutzt und entsprechende High-Speed-Transaktionen umgesetzt werden konnten.

Wenn wir uns nun auch hier die vielleicht etwas naive Frage stellen "Lohnt sich das ?", so ist sie betriebswirtschaftlich wieder schnell zu beantworten: Das die neue Kabelverbindung anbietende Unternehmen konnte nicht nur die erheblichen Mittel für den ganz konkreten physischen Bau der Verbindung aufbringen, sondern es verdiente mit der Vermietung seiner so verbundenen Spezial-Computerräume durchaus "gutes" Geld. So gesehen hat sich der Bau sehr wohl gelohnt.

Auch für die meisten Nutzer dieser Datenleitung war die Sache durchaus profitabel, denn aufgrund des Millisekunden-Zeitvorteils konnten sie gegenüber ihren Konkurrenten "bessere" Deals machen. Trotzdem hat der nicht-Börsianer ein mulmiges Gefühl bei der Sache.


Gehen wir einen Schritt zurück und betrachten wir die klassische Annahme der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Theorie. Danach liegt der spezielle Vorteil des Systems, auch und gerade durch die Tätigkeit an den Börsen, darin, stets die optimale "Allokation" von Kapital zu ermöglichen. Indem etwa die Börsen unrentablen oder unrentabel gewordenen Unternehmen die Finanzmittel entzögen und gleichzeitig den profitablen Unternehmen zur Verfügung stellten, würden sie stets für optimale Verteilung von Ressourcen sorgen und damit den allgemeinen Wohlstand heben. Oder etwas platter gesagt: Ein Unternehmer, der an einem veralteten Produkt festhält (sagen wir einmal Bakelit-Telefone), wird von Geld-Ressourcen abgeschnitten, während derjenige, der z.B. das neueste und beste Smartphone auf den Markt bringt, mit Börsenmitteln belohnt wird und nicht nur seine Kunden mit seinem Produkt beglückt, sondern auch einer wachsenden Anzahl von Menschen zu Arbeitsplätzen und Einkommen verhilft.

Aber bei der Millisekunden-Geschichte fragt man sich sofort, wo und wie denn die Sache mit dem realen Unternehmen, seinen realen Kunden und realen Arbeitnehmern verbunden ist. Wird ein Unternehmer nun im Millisekunden-Takt, oder wenn wir etwas gnädiger sind, im Zehnsekundentakt seine Entscheidungen bezüglich Investitionen, Entlohnung, Rationalisierung oder "Research&Development" ändern ? Wird er, im festen Glauben an die nunmehr millisekunden-optimierte Allokation der Finanzmittel, beruhigter in die finanzielle Zukunft blicken - oder aber im Gegenteil, angesichts immer 'mal wieder durch HighSpeed-Trading verursachten kleineren und grösseren Börsen-"Katastrophen", zögerlicher werden ?

Der Verdacht ist, dass hier zwar mit realem Geld, aber eigentlich ausserhalb der "Realwirtschaft" *1 operiert wird. Oder, wieder platt formuliert: Jene 300 Millionen, die da in diese Kabelverlegung investiert wurden, fehlen für "reale" Projekte - z.B. bessere U-Bahnen in New York. Sicher bin ich nicht imstande, für diese Annahme irgendeine eigene wertige Analyse zu erstellen - dafür fehlen mir schon die nötigen Fachkenntnisse in "normalem" und High-Speed-Börsenhandel. Aber dass nicht wenige berühmte Ökonomen das High-Speed-Trading für ein grosses Risiko halten und einer Abschaffung oder drastischen Beschränkung das Wort reden, halte ich schon für bedeutsam.


Vielleicht sollte man einmal ein einmonatiges Experiment durchführen und die lang angekündigte, aber nie eingeführte Finanz-Transaktionssteuer mit einem merkbaren Satz (manche sprechen von 0,5% - aber wieso eigentlich nicht 19% wie bei der Mehrwertsteuer ?) für 4 Wochen wirklich erheben. Nach üblicher Lesart würde sich jeglicher High-Speed-Handel dadurch sofort unrentabel machen - schliesslich würde auf jede Millisekunden-Transaktion die Steuer zu entrichten sein. Und wenn nach Ablauf der 4 Wochen kein Schaden für die Realwirtschaft festzustellen wäre, könnte man das Experiment ja fortführen …



(Mai 2016)


*1: Das Aufkommen des Begriffs "Realwirtschaft" ist übrigens schon sehr denkwürdig. Einem Unternehmer oder Banker etwa aus der Adenauer-Zeit wäre es nie eingefallen, zwischen "Realwirtschaft" und (ja was eigentlich ?) - "Irrealwirtschaft" zu unterscheiden. "Sobald gehandelt wird, ist Wirtschaft - und Wirtschaft ist Wirtschaft" - das wäre wohl die Replik gewesen. Die Notwendigkeit, den Begriff "Realwirtschaft" einzuführen, deutet schon darauf hin, dass da etwas schwer aus dem Ruder gelaufen ist.


Ein P.S. wäre hier noch anzubringen: Inzwischen sind den eiligen High-Speed-Tradern auch die High-Speed-Glasfaserkabel nicht mehr schnell genug. Mikrowellen sind "viel" besser, da sie in Luft etwas schneller sind als das in Glas eingesperrte Licht der Kabel. Und noch besser sind Hochleistungs-Laser - wenn man die noch in Vakuum-Röhren "hineinschiessen" lassen könnte, dann wäre man schon nahe dran am Einsteinschen Optimum. Ein Feld für Technik-Freaks - oder Irre ...