Ronald Reagans Cowboystiefel -

oder 3 Jahrzehnte "trickle down"




Ronald Reagan wurde 1981 der 40. Präsident der USA. Sein Wahlsieg war mit 51% zu 41% (gegenüber seinem Amtsvorgänger J. Carter) deutlich, aber nicht überwältigend gewesen. Insofern blieben viele Amerikaner seiner Politik mehr oder minder kritisch eingestellt. Was sich aber deutlich änderte, waren die persönlichen Beliebtheitswerte des neuen Präsidenten. Mit fast jedem neuen öffentlichen Auftritt stiegen sie, um schliesslich bis dahin unbekannte Werte zu erreichen. Wer sich heute Filmmaterial aus jener Zeit anschaut, kann schnell erkennen, woran das wohl lag: Dieser Mann gehörte eindeutig zu jenen seltenen Menschen, die spontan sympathisch* wirken - ein im Wortsinne "gewinnendes" Lächeln, ein offener Blick, einladende Gesten - all das wirkte zusammen. Auch die offensichtliche Zuneigung zu seiner langjährigen Ehefrau Nancy trug dazu bei, dass er nicht nur zum Liebling der "yellow press" wurde, sondern eben von den meisten Amerikanern - unabhängig von der politischen Einstellung - als persönlich vertrauensvoll eingeschätzt wurde. War das alles vielleicht nur gestellt - der Mann war schliesslich ausgebildeter Schauspieler ? Meiner Einschätzung nach war es nicht gestellt, aber das tut für diese Geschichte nichts zur Sache.


Was allerdings für diese Geschichte noch bedeutend ist: Zu jener Zeit waren die USA in einer wirtschaftspolitischen Krisenstimmung (zu der Reagans Wahlkampf allerdings auch beigetragen hatte). Viele Industriezweige schrumpften, die Autoindustrie war in einer echten Krise, ausländische Firmen wie Toyota oder Sony feierten Absatzrekorde. Überhaupt war Japan die grosse Nemesis; viele unkten, Japan werde die USA als mächtigste Wirtschaftsnation bald überholen. Symptomatisch für diese kollektiven Ängste war ein Titelbild des TIME Magazine, welches die Ziegelmauern einer alten amerikanischen Fabrik zeigte. Diese wurden gerade eingerissen von 2 mächtigen gelben Baumaschinen, auf deren Hydraulikarmen überdeutlich KOMATSU zu lesen war.


In dieser psychologischen Gemengelage unternahm der "junge" Präsident eine Reise nach Texas. Neben anderen Terminen nutzte Reagan die Gelegenheit, um bei einem texanischen Schuhmacher vorher bestellte massgefertigte Cowboystiefel abzuholen. Es waren dabei auch (eingeladen oder nicht) Reporter und Kameras anwesend, und Reagan in seiner offenen Art zeigte stolz die Stiefel vor, und auf die Frage eines Reporters nannte er auch den Preis dafür (mehrere Tausend Dollar). Denn das waren nicht einfache Stiefel, sondern Meisterwerke der Schuhmacherkunst, über und über mit Verzierungen und Applikationen aus Silber überzogen. Viele dieser Stiefel wurden denn auch gar nicht getragen, sondern kamen in die Vitrinen von reichen Sammlern (beim begeisterten Reiter Reagan ist es aber durchaus möglich, dass er damit wirklich über das Gelände seiner kalifornischen Ranch reiten wollte).


Im Gegensatz zu anderen Auftritten bekam dieser Vorfall schnell reichlich "negative Presse", und auch die Leserbriefseiten der Zeitungen waren voll mit verständnislosen Briefen: Darf ein Präsident in dieser Krisenlage wirklich ein derart überflüssiges Luxusgut kaufen, soll er seinen Kauf derart ostentativ vorzeigen, vielleicht sogar damit prahlen ? In dieser Situation kam jemandem aus dem Beraterteam Reagans (heute würde man ihn wohl spin-doctor nennen) der rettende Einfall. Es wurde verkündet, Reagan habe mit diesem Kauf ganz bewusst und persönlich die heimische Konjunktur ankurbeln wollen. Überhaupt sei es ganz ok, wenn reiche Leute ihr Geld für scheinbar überflüssige Sachen ausgeben würden, denn schliesslich würde das so ausgegebene Geld über verschiedene Stufen (vom Kunst-Schuhmacher über den Lederlieferanten, vom Lederlieferanten zu den diversen Angestellten und so fort) schliesslich bis zu den einfachen Leuten durchsickern - "trickle down".


Diese "trickle down"-Theorie war nun beileibe nicht neu, aber hier wurde sie offensiv eingesetzt. Und sie war auch ein Hintergrund-Thema bei den grosszügigen Steuererleichterungen, die der Präsident nun gerade für die Vermögenden durchsetzte. All das war der Beginn der "supply side economics", die ab den 1990er Jahren den Vorrang in den meisten Industrienationen bekommen sollte. Ist diese Theorie nun richtig ?


Lassen wir zuerst einen anderen Amerikaner sprechen, der sich in einer US-Dokumentation über den Mindestlohn (sinngemäss) wie folgt äusserte:

"Ich bin mit dem Verkauf von Herrenoberbekleidung sehr wohlhabend geworden. Ich verdiene ungefähr 50x soviel wie der Durchschnittsamerikaner. Ich habe in meinem Kleiderschrank vermutlich auch mehr Hosen als der Durchschnittsamerikaner. Allerdings habe ich keinesfalls 50x mehr Hosen, sondern bestenfalls 3- oder 4-mal so viele. Bezogen auf sein Einkommen gibt der Durchschnittsamerikaner also viel mehr für Hosen aus als ich. Wenn ich weiterhin in meinem Business erfolgreich sein will, muss ich dafür sorgen, dass es genügend Menschen gibt, die einen hohen Anteil ihres Einkommens für meine Waren ausgeben können. Deshalb bin ich für die Erhöhung des Mindestlohns."


Letztlich bestätigt die Aussage dieses Unternehmers nur die ökonomische Binsenwahrheit, dass der Anteil der "konsumtiven Ausgaben" umso geringer wird, je höher das Einkommen liegt. Oder banaler gesprochen: Wer einem Millionär 500 Euro bar in die Hand schenkt, wird kaum darauf hoffen können, dass dieser nun tatsächlich 500 Euro mehr für Essen, Kleidung oder Dienstleistungen ausgibt, als er es ohne dieses Geschenk getan hätte. Gibt man dieselben 500 Euro einem Geringverdiener, so wird dieser das Geld mit hoher Sicherheit und in kurzer Frist für Essen, Kleidung oder Dienstleistungen zusätzlich ausgeben. Während beim Millionär wahrscheinlich nur der Kontostand um 500 Euro gestiegen ist.


Die Finanzkrise ab 2007 wurde durch den Verfall von sogenannten "subprime"-Hypothekenkrediten in den USA ausgelöst. Dies waren Kredite für Hauskäufe, die an Kunden ausgegeben wurden, die nach sonst üblichen Vergaberegeln nicht kreditwürdig gewesen wären - "subprime" war der Euphemismus dafür. Gebündelt wurden diese Kredite über Derivate, deren sogenannte "Verbriefung" durch Banken und Rating-Agenturen oft nicht das Papier wert waren, auf dass sie geschrieben waren. Ausgelöst wurde sie schlussendlich durch die Tatsache, dass viele Kreditnehmer (eigentlich erwartungsgemäss nach konventioneller Banken-Erfahrung) ihre Kredite nicht mehr "bedienen", also die Raten nicht mehr zahlen konnten. In der Folge wurden auch die Derivate immer hektischer verkauft, bis sie faktisch wertlos waren.


Stellen wir uns vor, zu diesem Zeitpunkt hätte ein überaus generöser Philanthrop (oder ein überaus vorausschauender Menschenfreund) aus seinem grossen Vermögen für alle bedürftigen Kreditnehmer die Ratenzahlungen übernommen. Das wäre unzweifelhaft ein teures Vorhaben gewesen, vielleicht mehrere hundert Milliarden Dollar schwer. Aber wenn er es getan hätte, so würden alle diese Leute heute ein Häuschen oder eine Eigentumswohnung besitzen und ihr restliches Einkommen für normalen Konsum aufwenden und nicht, wie heute noch teilweise, Raten für gar nicht mehr in Ihrem Besitz befindliche Immobilien abstottern. Und auch alle anderen Glieder der Kette, die örtlichen Hypothekenbanken, die Subprime-Bündler, die Mega-Banken und -Versicherungen wären unbeschadet davon gekommen, die "Lehman-Brothers"-Pleite hätte nicht stattgefunden.


Tatsächlich wurden nach der Krise von den Regierungen in den USA, Europa und weltweit hunderte Milliarden Dollar, Euros, Pfund etc. aufgebracht, um das "Finanzsystem" zu "retten". Teilweise wurde das für klassisch keynesianische Konjunkturankurbelungs-Programme verwendet (wer erinnert sich noch an die Auto-Abwrackprämie ?), aber der Grossteil wurde mehr oder minder direkt in die "notleidende Finanzwirtschaft" gesteckt. An den Folgen laborieren viele Staatshaushalte noch heute. Interessanterweise wurde - zumindest diesseits des Atlantiks - die Keynesianische Politik schnell wieder begraben, stattdessen eine erstaunliche Austeritätspolitik immer verbissener durchgesetzt. Die europäische Wirtschaftkrise - anders kann man Wachstumsraten um unter 1%, (durchschnittliche !) Arbeitslosenraten von 9-10% und eine tendenzielle Deflation eigentlich nicht nennen - ist durch diese Finanzkrise zumindest angestossen worden.


Können eigentlich "Austerität" und "supply-side-economics" da wirklich helfen ? Gibt es irgendwann ein "trickle down", dass tatsächlich allgemeinen Wohlstand schafft ? Mindestens ein grundlegender Denkfehler aller supply-sider und Neoliberalen ist die Vorstellung, dass Arbeitsplätze schon dann entstünden, wenn die Unternehmer nur genug Geld in der Tasche hätten. Sicher stellt kein Unternehmer Leute ein, wenn die Finanzen derart am Boden sind, dass die laufenden Ausgaben kaum zu decken sind. Aber er stellt auch keine Leute ein, nur weil sich auf dem Bankkonto ein Vermögen angesammelt hat. Voraussetzung ist eine Nachfrageerhöhung nach seinen Produkten oder Dienstleistungen oder zumindest die reale Erwartung einer solchen Nachfrageerhöhung. Erst dann wird er investieren - in Material und Personal.


Nun besteht aber ein Unterschied zwischen der konkreten ökonomischen Situation des Unternehmers und der wirtschaftlichen Gesamtsituation eines Staates. Gerne wird der Unternehmer alle Ausgabensenkungen (und also auch Steuersenkungen) mitnehmen, da es ja unmittelbar seinem Gewinn zugute kommt. Er wird sich aber in aller Regel nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob die konkrete Steuersenkung gesamtwirtschaftlich vielleicht kontraproduktiv ist, weil sie im Endeffekt Geld von den weniger vermögenden zu den reicheren umschichtet und damit insgesamt auch das Nachfragepotential senkt.


Dieses gesamtwirtschaftliche Denken muss der Staat, namentlich über seine Minister für Wirtschaft und Finanzen, leisten. Die Bundesrepublik hatte mit Karl Schiller einmal einen veritablen Professor für Wirtschaftstheorie an der Spitze dieser Ministerien. Danach kamen leider immer weniger berufenere Zeitgenossen in diese Position (vor allem die unvermeidlichen Juristen). Und mit Frau Merkel und Herrn Schäuble haben wir nun Spitzenpolitiker, die sich zumindest öffentlich entweder auf Milchmädchen-Niveau bewegen ("schwäbische Hausfrau") oder am liebsten aus wissenschaftlich längst diskreditierten Werken (die berüchtigte Rogoff-Reinhart-Studie) zitieren. Im Effekt bedienen Sie ausgeprägte Partikularinteressen, wobei dabei auch gerne ein Teil der Wirtschaft (z.B. die Exportindustrie) gegenüber anderen Teilen (z.B. Einzelhandel, Handwerk...) begünstigt wird. Das dabei auch gegen geltende Gesetze, z.B. das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, verstossen wird, interessiert die grosse Koalition der Selbstgefälligen nicht.


Um zu den Cowboystiefeln zurückzukommen: Ich habe sie Mr. Reagan damals gegönnt und würde sie ihm auch heute gönnen. Das das ausgegebene Geld irgendwann einmal an die "Basis" der Gesellschaft durchsickert, ist möglich, aber als Grundlage für eine öffentliche Wirtschaftspolitik offensichtlich unzureichend. Wenn man schon eine "rule-of-thumb" für diesen Bereich sucht, dann eher schon "deine Ausgaben sind meine Einkünfte, und meine Ausgaben sind deine Einkünfte".


Freiburg, März 2016






* Wobei es sicherlich auch Menschen gab und gibt, denen Reagan nicht sympathisch war oder ist .




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